Earth nature field

der lange Weg des Leids

Nur komplette Erzählungen! Only complete stories!

Moderator: Moderatoren Team

Antworten
Benutzeravatar
Ammon
r_novice

r_novice
Beiträge: 27
Registriert: Mi Okt 13, 2004 8:36 pm
Wohnort: Erphesfurt / Thuringia

der lange Weg des Leids

Beitrag von Ammon »


Ammon begibt sich nach dem Tagewerk in seine Kemenate, entzündet
einige Kerzen aus Bienenwachs und setzt sich an das Schriftpulte.
Er schreibt an der Chronik der Wanderung der Hermunduren, der
Thoringi, nach Tamar.


1. Kapitel Die Jagd

Bild
Geneigte Leserschaft,

meyn Nam' ist Ammon Trunneborg, Kämmerer am Hofe zu Erphesfurt,
undt ich will euch nun berichten über den Leidvollen Wege meines
Herrn und unseres Volkes nach Tamar.
Im Herzen Ewropae ward einst ein Reich genannt das der Hermunduren
unter ihrem König Hermenefried; voll von saftigen Heiden, sanften
Hügeln und dichten Wäldern, in denen noch, so man sich erzählte, allerlei
elbisch Volke aus uralter Zeit verweilte. In einem weiten Becken wand
sich ein zierliches Flüßlein, das wegen seines allseits trüben Wassers
von den Einheimischen Erpf genannt wurde. An einer seichten Stelle
der Erpf war eine kleine Siedlung benebst einem Lehnshofe gelegen.
Herr des Hauses war der gütige Albrecht und sein jüngerer Bruder
Eckewarth. Albrechts Gattin Uthe gebar ihm einen Sohn und wenige Jahre
später segnete sie ihn ein zweites mal mit einer Tochter.
Thoralf und Anne.
Bild
Originalquelle Bildmaterial: ZDF Dokumentation "sturm über europa"

...es geht gegen Mitternacht und Ammon hält sich nur noch mühsam wach.
Kurze Zeit später sinkt sein Haupt auf das Schriftpult...die Feder gleitet
zu Boden...Ammons Gedanken reisen im Traume zurück in die alte Heimat,
wo der lange Weg begann...


Es war um die Zeit 525 nach der Zeit des vergangenen
weströmischen Reiches, etwa 371 nach König Abanor zu Tamar.

"AMMON!", hallt die schwere Stimme Eckewarths durch den Hof, "MACHT ALLLES
BEREIT FÜR DIE ANKUNFT KÖNIG HERMENEFRIEDS! Wir werden mit ihm auf eine
Jagd ins Werratale reiten".
Ammon fiel es wieder ein: 'Ei freilich, der König' und es sollte für
den Sohne Albrechts ein besonderer Tag werden. Thoralf war eine Woche
zuvor gerade achtzehn Jahre alt geworden und somit reif genug, um an
einem königlichen Ausritt teilzunehmen.
"Ja Herr", erwiederte Ammon rasch, "ich werd alles veranlassen", und
rief sogleich alle Hofbediensteten zu sich.
Unterdessen probierte der junge Thoralf zum ersten Male einen Kettenwams
in der Rüstkammer an. Anne hatte ihn begleitet und amüsierte sich nun
köstlich über seine gekrümmte Haltung und das viel zu große Eisenhemde:
"Du mustest auch gleich das erstbeste nehmen, weißt du nicht, daß es das
unseres Oheims ist". Wahrlich, Eckewarths Statur glich eher der eines
Schmiedes und nicht der eines jungen Burschen. Thoralf entledigte sich
dieses schweren Gewandes und ging etwas weiter in die Kammer hinein.
Ganz am Ende, unter dem Banner derer zur Erpfe, hing das Kriegsgewand
seines Vaters und daneben ein weiteres, welches er nicht erkennen konnte.
"WUSST ICHS DOCH, DASZ DU DICH HIERO HERUMTREYBEST", durchschnitt eine
ernste Stimme die Stille. Thoralf fuhr erschrocken um, Anne schlug verlegen
die Augen nieder. "Vatter, aber...", Thoralf versuchte zu antworten, aber
da lachte Vater Albrecht donnernd los. "Leg es an, deine liebe Mutter und
deine Schwester haben es zu deinem Geburtstage fertiggestellt. Aber eil dich,
Sunne, denn in eyn paar Stund reiten wir aus".
Als Albrecht die Kammer im Keller verlassen hatte sah Thoralf zu Anne, die sich
das Lachen wieder nicht verwehren konnte."Fürwahr, diese Überraschung ist euch
geglückt, dir und Mutter".

Ammon war völlig aufgelöst als der Bote, den er in Richtung der königlichen
Gefolgschaft sandte, wieder an die Erpf zurückkehrte, mußte er doch alle
Vorbereitungen leiten und die Gemächer der erlauchten Gesellschaft begutachten
noch bevor der König eintraf.
"Se werden in zwee Stund' hirseyen", rief der Bote noch im Sattel sitzend.
Ammon winkte ihm zu...'Das würde reichen um alles rechtzeitig zu schaffen'.
Albrecht, Mutter Uthe, Eckewarth und die junge Anne warteten bereits an der
Hoftreppe auf das Gefolge des Königs als Albrecht sich umsah: "Wo ist Thoralf?"
und warf einen strengen Blick auf seine Tochter. Anne suchte kurz mit ihren
Augen Hilfe bei der Mutter. Albrechts Miene wollte sich gerade verfinstern,
wie sonst, wenn Thoralf etwas ausgefressen hatte, doch da öffnete sich die
Tür am Ende der Treppe und sein Sohn trat hervor.
Uthe schaute hinter sich und alsbald wurd ihr warm ums Herze als sie Thoralf
in dem neuen Gewande sah. Ihr kleiner Sohn war tatsächlich ein Recke geworden,
wie es einem Hermunduren, einem Thüringer gebührte.
Albrecht nickte Thoralf zu: "Komm an meine Seite Sohn, es wird schon Recht sein!"
Da ritt auch schon die königliche Reitershaar in den Hofe.
Hermenefried stieg ab, hielt ohne Umschweife auf Albrecht zu, begrüßte ihn kurz
und fügte hinzu '...er wolle ihn alsbald allein sprechen'.
Eckewarth und Albrecht tauschten fragende Blicke aus. Des Königs
Begrüßung war einst freundschaftlicher gewesen. Hatte ihn also nicht allein
die Lust auf einen stattlichen Hirsch in die Mitte seines Reiches geführt.

Während die königlichen Gesandten und der Hof zur Erpf bei Speis und Trank
zusammensaßen, konnte man von Albrechts Amtsstube über dem Saale hin und
wieder Schritte vernehmen.
Eine Zeit später kamen Hermenefried und Albrecht die Holztreppe herab und
riefen zum Ausritt ins Werratale, doch bemerkte Thoralf, daß sich der
Ausdruck in seines Vaters Antlitz geändert hatte.
Es musste wohl um Reichsangelegenheiten gegangen sein.

Der Ausritt sollte vier Tage dauern. Hier und da konnte Thoralf seinen Vater,
Oheim Eckewarth und den König in ernster Runde beisammen sehen; mal zu Fuß,
mal zu Roß. Er meinte auch einige Wortfetzen verstehen zu können ...daß die
Angeln in das Reich einwanderten....Theoderich der Gotenkönig, Oheim von
Hermenefrieds Gattin, läge im Sterben...
...er hörte Worte über das Merowinger Geschlecht der Franken und den Namen
Hoyer Brandes. Von alldem hatte er noch wenig Ahnung, aber an Hoyer Brandes
konnte sich Thoralf bestens erinnern.
Brandes war ein weiser Mann, ein Warne und schon weit in der Welt gereist.
Oft war er früher Gast am Hofe zur Erpf und hatte ihm als kleinem Jungen
viele Geschichten über fremde Städte, Völker und alte Schlachten erzählt.
Wie Thoralf nun so lauschte sprang urplötzlich ein wuchtiges Tier aus dem
Unterholz auf die Lichtung und hielt auf ihn zu. Die Treiber hatten einen
riesigen Eber rasend gemacht und nun machte sich der ungeheure Schwarzkittel daran
Albrechts Ahnenreihe sein Ende zu bescheren.
So schnell er konnte zog Thoralf seinen Ger vom Sattel und schleuderte ihn mit
voller Kraft wider dem anstürmenden Keiler...gerade noch rechtzeitig, denn das
Biest war dem Burschen schon beinahe auf den Pelz gerückt, und der nächste Baum
ward freilich ein gutes Stück entfernt. So wand sich das Tier noch einige Male
bevor es am eigenen Blute erstickte und der letzte Tag der Jagdgesellschaft sich
zu Ende neigte.
Man saß bei reichlich Met und Fleische beisammen unter freiem Nachthimmel und
feierte den Ausklang eines trefflichen Ausrittes, nur im Zelte des Königs
war ernste Stimmung. Hermenefried saß mit Albrecht und den Markgrafen der an
die Franken grenzenden Ländereien über Karten, Bullen und Botschaften und
berieten die allgemeine Situation des Reiches.
Und sie sollten mit ihrer Sorge recht behalten.


Die Sonne schickt bereits die ersten Strahlen in Ammons Kemenate, wo er noch
immer auf seinem Pulte schläft...trunken vor Müdigkeit reibt er sich die
Augen und hält sich das Kreuze...'Schon wieder eine Nacht nicht im Bette verbracht.
Ei, auf dauer wird mir das die Gicht bescheren', denkt er bei sich und schaut auf
das Pergament. Völlig erstaunt blickt er auf die Zeilen und kann nicht glauben,
daß alles so geschrieben steht, wie er's noch vor Stunden geträumt hatte.
Ammon erhebt sich, schüttelt den Kopf und denkt:
'Wahrlich dies ist eine fremde Welt, wann werd ich mich nur daran gewöhnen'....
Zuletzt geändert von Ammon am Di Jul 05, 2005 11:18 am, insgesamt 3-mal geändert.
Ammon Trunneborg,
Kämmerer und Schreiber am Hofe zu
Erphesfurt, Hauptstadt Thuringias
Benutzeravatar
Ammon
r_novice

r_novice
Beiträge: 27
Registriert: Mi Okt 13, 2004 8:36 pm
Wohnort: Erphesfurt / Thuringia

Kapitel 2

Beitrag von Ammon »

2. Kapitel Das letzte Thing

Gut drei Jahre waren seit der großen Jagdgesellschaft vergangen. Thoralf war nun
einundzwanzig Jahre alt und offizieller Erbe von Albrechts Lehen. Aber viel hatte
sich seit dem geändert. So wie Hermenefried es befürchtete strömten Scharen von
anglischen Siedlern aus dem Norden ins Hermundurenreich und gründeten ihre
Dörfer wahllos dort wo es ihnen am besten schien. Das gab freilich Unfrieden
zwischen den Einheimischen und den Einwanderern und allsbald führte so mancher
fruchtbarer Acker zur Blutfehde zwischen durischen und anglischen Sippen.
Zunehmend gewannen die fränkischen Merowinger im entfernten Westen an Einfluß und
Macht. Sie hatten den Vorteil des alten römischen Siedlungsrechtes gut genutzt
und verfügten bald über ein treffliches Reiche, daß sich nun bis an den Main
erstreckte.
Diese Jahre hatten Albrecht arg zugesetzt und er ließ keinen Tage aus, seinem
Sohne eine weitere wichtige Lektion zum Führen eines Lehnshofes zu lehren. Sollte
Thoralf doch über die nötige Weisheit verfügen, wenn die Zeit seines Vaters endete.
Oft waren die Markgrafen aus dem Westen des Reiches zu Gast und berichteten
über die Franken. Dort ließen sie, so hieß es, Pfalzen zur Befestigung errichten
und hielten Heerlager an den Ufern des Mains.
Eckewarth war oft mit Thoralf unterwegs in den Wäldern. Der stämmige Oheim sollte
den jungen Erbfolger in der Kriegskunst lehren und ihn abhärten wie einen
Waldmann. Sie blieben manchmal tagelang in den dichten Waldungen, wo allerlei
unheimliches Getier umging und erlegten ihr Abendmahl hin und wieder mit
der bloßen Hand. Kein Gefolge war mitgereist und sie trugen auch nicht die
höfischen Gewänder, sondern waren gekleidet wie in alter Zeit, nur mit einem
Dolche gewappnet. Eckewarth liebte diese Streifzüge, denn die alten Götter waren
in seinem Herzen, seinem Blute. Sie schliefen die Nächte unter dem Zelt der
Bäume, zogen tagsüber durch wilde Täler und verschlungene Pfade.

Eines Morgens kamen sie an eine Lichtung als Eckewarth am Waldrand stehenblieb
und Thoralf hieß keinen Mucks zu tun: "Siehest du sie...dorten awf de ander Seyten",
flüsterte der Oheim zu Thoralf. Warhaftig, noch nie hatte Thoralf eine Herde
urwüchsiger Auerochsen gesehen. Wären sie nicht schon seit Tagen in der Wildnis, würde
dieser Anblick für die beiden ein gefährliches Unterfangen darstellen.
Von einem wilden Ur auf die Hörner genommen zu werden, nein, das wünschte nicht
mal Eckewarth seinem schlimmsten Feinde. Aber der Wald hatte ihnen ihre
menschliche Witterung genommen und nun waren die beiden Recken eins mit dem Geist
des Baumes. Ehrfürchtig sahen sie der Herde zu, wie sie die Lichtung passierte und
wenig später hinter dunklen Ahornbäumen verschwand.
"Kumm' Thoralf, es givt eyn Grunde, destero ich dich hirher führte", sagte Eckewarth und
schritt sogleich auf die Lichtung vor. Etwa in der Mitte befand sich ein hüfthoher
Findling in dem allerlei Zeichen geschlagen waren. "Ich kenn' die Wälder seit ich ein
Kindlein war, Oheim," sagte Thoralf leise, "aber an einem Ort wie diesem war ich
noch nie gewesen. - Diesz min Jungen ist te heiligh Hain unserer Ahnen.
Selbst die Kelten vor uns wußten, daß dieser Platze hier besonders ist. Die Runen erzählen
von den Treffen der Vorderen. Das letzte Mal ward hier vor gut hundertfünfzig
Jahr ein Thing der Stämme unseres Reiches, als die Hunnen aus dem Osten kamen. Die
Väter entschieden damals hierzubleiben, nicht den Weg der Alamannen zu gehen. Du siehst,
wir sind noch hier und schlugen große Schlachten an der Seite Attilas.
Doch Thoralf, nun sag ich dir, daß unser Reich auf Messers Schneide
stehet. Theoderich der Große ist tot. Unser König wird von den Goten keinen Schutze mehr erhalten können.
Die Sippen verbluten in rastlosen Fehden mit den anglischen Siedlern und im Westen stehn
die Franken in Wehr un' Waffen zu beiden Ufern des Mains."
Eckwarth mag wohl Thoralfs Oheim sein, aber er war doch gut zehn Jahre jünger als
sein Bruder Albrecht und noch voller Tatendrang wie sein Neffe. Doch in diesen Sätzen lag
ein Klang von Mutlosigkeit, den Thoralf bei Eckewarth noch nie gehört hatte.
"Dann muß das Reich geeint zum Kampfe stehen", brach Thoralf heraus, - "Hermenefried ist zu
schwach geworden, Thoralf, seine Tage sind gezählt und die Sippen schauen nicht weiter,
als über ihren Acker, um den sie sich mit den Angeln streiten. Nein, die Merowinger werden
leichtes Spiel haben." Eckewarth ließ sich rücklings an dem Findling ins Gras gleiten und
blinzelte mit den Augen in die nun hochstehende Mittagssonne. - "Und wenn wir nun doch den Weg
der anderen Stämme gehen ? Fort von hier, in ein anderes Land ?", erwiederte Thoralf - "HA ", stieß
Eckewarth auf und pfiff durch die Zähne, "nach Rom? In die 'ewige Stadt'? Die ist nur mehr ein
Schatten ihrerselbst. Oder meinst du, daß uns die Franken den Main aufwärts spazieren lassen,
sodas wir uns bei den Burgunden einnisten können. Nein, ich höre schon Loki über solch Gedanken
feicksen. Aber ich sage dir, Neffe, es wird ein letztes Thing geben. Hier am heiligen Hain.
Dein Vater bat mich dich darauf vorzubereiten und so sind wir losgezogen, um eins mit
dem Wald zu werden."
Und wie sie das waren, denn plötzlich hielten beide inne und lauschten
in die Bäume. Ihre Ohren vernahmen Hufe die auf Waldboden trabten. Gespannt starrten sie
in die Richtung aus der die Laute kamen, die Dolche in den Fäusten. Doch bald wurden
sie gewahr wer da fürbass ritt und erhoben sich aus dem Gras.

"Heil Ewch, 'Er Brandes, was führet Ewch an diesen Orthe?", rief Eckewarth über die Lichtung.
Hoyer Brandes ritt auf sie zu, stieg ab und man begrüßte sich innig.
"Ich wollte den Hain vorabbe schon einmal in Awgenscheyn nehmen, vor dem Thing zur Sonnenwend.",
entgegnete Brandes und reckte seinen grauen Bart nach vorn. "Es werden viele Stämme kommen,
dessen seyed Ewch gewiss. Zudem komme ich von einer Reise und habe einen Gedanken,
einen Plan, den ich zur Mittsommernacht hiero vortragen werde." - "Wo wart Ihr gewesen Herr
Brandes, in fremden Landen ?", Thoralfs Augen funkelten, als säße er gerade wieder mit
Hoyer am Kaminfeuer im Herrenhaus zur Erpfe. "Nein, diesmal nicht", sagte Brandes und lächelte
gütig zu Thoralf, "nur im hohen Norden war ich, bei den Jüten. Dort wurde mir vieles zugetragen,
was ich auf dem Thing berichten werde. Es verdient einer Beratung aller Stämme."
So weilten die drei noch ein wenig an diesem heiligen Platze und brachen nach kurzer Verabschiedung
Richtung Erpfe auf. Hoyer Brandes ritt voraus. Thoralf und Eckewarth wanderten zu Fuß.
Aber nun auf den üblichen Handelswegen, denn es galt jetzt keine Zeit zu verlieren.

Es war zum Begin des Monats Brachet 529 als bei jedem Lehnsmanne Hermenefrieds die Botschaft
über das Thing nach altem Brauche auf der Lichte der Vorderen eintraf.
Man wurde gehießen, daß sich einjede Sippe im Lehen mit dem Ältesten und dem Erstgeborenen benebst
kleinem Gefolge und vorangeführter Hausmarke zur besagten Lichte am Abend der Sommersonnenwende
einfinden soll, auf das erneut nach einhundertfünfzig Jahren das ganze Volke über die Zukunft
des Reiches entscheiden möge. Das war fürwahr besonders. Zwar wurde in kürzeren Abständen ein
sogenanntes Reichsthing oder auch Reichsding am Hofe des Hermundurenkönigs abgehalten, aber
es hatte mit den alten Bräuchen nicht mehr viel gemein. Umso erstaunlicher war es nun
für einen Sippenältesten, zu erfahren, daß der König selbst ein Treffen ausrief, wie es die
Vorderen getan, als noch Tacitus über dieses Land schrieb und von denen berichtete, die da an
Thor glaubten.
Und so kam es, daß in diesem Waldstück, wo einst so lange Stille herrschte, die
Thüringer ein letztes Mal als freies Volk zusammenkommen sollten. Hermenefried hatte für
diese Zeit einen Landfrieden befohlen und auch Angeln, Warnen und Langobarden die Teilnahme
an diesem Treffen gewährt. Denn sie ging es genauso an.
Schon eine Nacht zuvor flackerten hunderte Fackeln und Lagerfeuer in den Wäldern und auf der
Lichtung um den Findling. Überall wogten die Sippenbanner mit den Hausmarken der Familien im
seichten Winde und warfen, vom Schein der Flammen angestrahlt, gespenstische Schatten über die Kronen
der mächtigen Ahornbäume.

Als der längste Tag im Jahre anbrach, trafen auch die Herren der Erpf an der Lichte ein.
Es war kaum noch Platz um ein eigenes Lager aufzuschlagen, aber das war gleich. So ein Thing
war nicht nur eine Beratung des Volkes, sondern zunächst ein trefflicher Anlaß, um mit einem
vollen Horn Met anzustoßen. Viele Stämme lagen in Fehde miteinander, doch solch eine Zusammen-
kunft war eine Sache der Ehre und sollte nicht durch kleine Niglichkeiten geschmählert werden.
Auch Mutter Uthe war mitgereist, so wie viele andere ihre Frauen und Mütter mitgenommen hatten.
Den Frauen galt bei Versammlungen besondere Aufmerksamkeit und viele ruhmreiche Krieger fragten
vor dem Kampfe ihr Weib oder Mutter um Rat. Auch waren sie es, die ein Thing nach altem Brauch
eröffneten mit der Huldigung der Götter und dem Darbringen eines Opfers.

Die Sonne senkte sich allenthalben langsam in die Baumkronen, als eine Gruppe von Priesterinnen
in weißen Gewändern um den Findling Stellung bezog. Sie streckten ihre Arme aus und begannen
mit anschwellender Stimme in altem Dialekt die Götter zu beschwören. Sie hatten zuvor einen
Trank aus Alraune zu sich genommen und waren nun mit Asgard verschmolzen. So riefen sie das
Opfer aus. Es wurde ein lebend gefangener Hirsch herbeigetragen, mit den Läufen gefesselt an
einem jungen Stamme und auf den Findling gelegt.
Die hohe Priesterin trat auf den Stein und legte einen Dolch an die Kehle des Tieres.
Nun erhob sie den Kopf gen dem Abendhimmel, hauchte eine magische Formel und öffnete mit einem
Hieb die Schlagadern des Hirsches.
Das Opfer war erbracht. Die restlichen Priesterinnen hoben zu einem Gesang an, der nun die Gunst
der Götter einforderte, um dem Thing das Heil zu bescheren.
Dann zogen sie sich wieder in den Wald zurück und überließen nun den Sippenführern die Lichtung.
Man setze sich im Schein von Feuern in großem Kreise um den blutigen Stein. Hermenefried betrat
die Mitte und begann zu sprechen. Es war noch nichts Neues unter seinen Reden, denn die Nachrichten
über die Franken waren allseits im Lande bekannt. Als nächstes kündigte der König einen weisen
Mann aus dem Stamme der Warnen an, 'er hätte vieles zu berichten und man solle ihm Gehör schenken.'
Thoralf saß neben Eckewarth hinter Albrecht. Sie sahen sich an und beide wußten wer jetzt reden
würde.
Da trat der graubärtige Mann in den Kreis, blickte grimmig in die Runde und hob mit donnernder
Stimme an: "Ihr wisset alle um die Gefahr aus dem Westen. Und ihr wisset auch um den Tode des
Ostgotenkönigs, unserem Gönner. Die Stämme sind gespalten in der Meinung. Einige wollen
kämpfen. Die anderen wollen Frieden, sei es auch als Untertanen der Franken. Wieder andere wollen
weg von hier, hadern aber mit dem Ziele. Die Zeit der großen Wanderungen ist vorüber und so gibt
es kaum einen Platz in dieser Welt, wo es noch lohne eines Volkszuges Pein zu ertragen.
Aber höret, ich war im Norden bei den Jüten, wo die Nächte lang sind und mit den Schiffen allerlei
seltsames Volke anlandet. Dort traf ich einen Manne, der erzählte mir von einem Land, weit weg
von hier über den großen Wassern. Vieleicht nicht einmal hier auf dieser Welt."
Ein Langobarde aus dem Donaugebiet erwiederte spöttisch: "Alter Mann, du sprichst von Dingen,
die's nicht gibt. Und wenn, wie sollen wir dorthin gelangen, HA. Da suchen wir lieber unser Heil
bei den Ostgoten im alten Rom !" - "Wer sagt, daß ihr das nicht könnt", entgegnete Brandes ruhig, "ich
spreche zu denen, die Mutes sind und voll mit Tatendrang. Wer bleiben will, der soll es tun und
kämpfen. Ich habe einen Weg ersonnen und im Norden gibt es treffliche Seeleute, die die Meere schon
kühn bereisten." In Thoralfs Ohren dröhnten die Worte Hoyers wie ein Gewitter und unter seinen
Rippen hämmerte sein Herz, denn es war geanu das, was er hören wollte. Ja, fort von hier. Weg von dem
ewigen Streite und Unbill. Er sah seinen Oheim an und bemerkte, daß seine Augen das Gleiche sagten
was er dachte. Hatte Eckewarth noch vor Tagen gezweifelt an dem Gedanken eine große Wanderung zu
beginnen. Jetzt wo er Brandes' Worte hörte, hatte er wieder Hoffnung.

Als Brandes geendet hatte entbrannten heftige Streitereien. Die Sippen, die kämpfen wollte beschimpften
die reisewilligen als feig und es wurden gar böse Worte gewechselt.
Dann trat erneut der König in den Kreis und rief allesamt zur Ruhe.
"So sey es denn! Ich werde hier im Reiche bleiben und fordere von meinen Lehnsmannen die Treue im
Kampfe!" Thoralf traute seinen Ohren nicht, doch Hermenefried hatte noch mehr zu sagen:
"Der Rest der Sippschaft aber, soll die Wahl haben, zu bleiben oder mit Brandes zu ziehen. Entscheidet
Euch ! In Jahr und Tage sollen sich die versammeln im Tal der Unstrut, die in die neue Welt möchten.
Jede Sippe, die Reisende stellt, soll die Hälfte ihres Hortes mitgeben, denn sie werden es brauchen."
Eine Stimme aus dem Hintergrund rief: "Aber wer soll das Volke in die neue Welt führen? Hoyer Brandes
ist kein Edelmann!" Alles war still. Daran hatte keiner Gedacht. Auch nicht diejenigen Oberen, die
brennend für eine Wanderung sprachen.
Plötzlich fuhr es durch Thoralf wie ein Blitz, als ob Thor selbst ihm mit seinem Hammer in den Rücken
schlüge, und er sprang auf: "Ich werd es tun! " Albrecht, noch hockend, fuhr um und sah zu seinem
Sohn auf, brachte aber kein Wort heraus. Gleich darauf brach unter ettlichen Sippen ein heilloses
Gelächter los. "DIESER KNABE ? ", "...KANN JA KAUM EIN SCHWERTE HALTEN". Ungewöhnlich war nur, daß
im Gefolge des Königs alles stille blieb und mit den Augen auf dem jungen Erpfer ruhte.
Viele erinnerten sich an die Jagd vor nun 4 Jahren. Auch der König hatte gesehen, wie flink der Bursche
damals mit dem Ger den Keiler erlegte. An Geschicklichkeit mangelte es ihm zweifelsohne nicht.
Die Weisheit mochte Brandes stellen. Was aber sagte der älteste der Erpfer dazu?

Albrecht war inzwischen aufgestanden und blickte seinen Sohne an. Er hatte das Gefühl bereits
seinem toten Kinde ins Antlitz zu schauen. Wortlos ging er an Thoralf auf die Bäume zu, wo
ihr Lager war. "Wo gehst du hin, Vatter ?", rief Thoralf, doch Eckewarth hielt ihn an der
Schulter zurück und zog ihn zu sich: "Er wird zu Mutter Uthe gehen und mit ihr sprechen. Wir
müssen warten."

Nach einer ganzen Weile bangen Wartens kamen Uthe und Albrecht aus dem Lager zurück auf die
Lichte. Thoralf ging seiner Mutter entgegen und kam vor ihr zum stehen. Sie musste bitterlich
geweint haben, doch nun schien sie erhaben über jeden Schmerz, trotz daß ihre Wangen immer noch
feucht von Tränen waren. Sie zog ihren, sie um Kopfeslänge überragenden, Sohn zu sich hinab,
gab Thoralf einen Kuß auf die Stirn und sagte sanft: "'s ist gut Wenri, es ist gut. Du wirst sie
führen und ihnen Frieden bringen. Ich habe es bereits geseh'n."
Sie hatte ihren Sohn mit seinem Kindnamen angesprochen.
Es dauerte bis zum Morgengrauen bis sich alle Sippen geeinigt hatten. Und so würde etwas mehr als
ein viertel von ihnen mit Brandes und Thoralf auf den gefährlichen Marsch gehen.

So sollte die große Wanderung einen Tag nach Mittsommer im Jahre 530, nach der christlichen Welt,
im Unstruttale beginnen.
Ammon Trunneborg,
Kämmerer und Schreiber am Hofe zu
Erphesfurt, Hauptstadt Thuringias
Benutzeravatar
Ammon
r_novice

r_novice
Beiträge: 27
Registriert: Mi Okt 13, 2004 8:36 pm
Wohnort: Erphesfurt / Thuringia

Kapitel 3

Beitrag von Ammon »

3. Kapitel Runnewehr

Soweit das Auge blicken konnte sah man Rauchsäulen von Lagerfeuern, Ochsenkarren, Zelte und Buden
fahrender Händler im Unstruttale zum Sommerbegin des Jahres 530 der Christenheit.
Alte, Kinder, Frauen, Bauern, Handwerker aller Stände und Edelleute hatten Lager aufgeschlagen.
Ein schier undurchdringliches Gewirr an Menschen aller thüringischen Stämme sammelte sich an diesem Fluß.

Thoralf stand auf einer Anhöhe und betrachtete den friedlichen Heerhaufen. Da trat Albrecht, sein Vater
an ihn heran. Thoralf sah zu ihm: "Vater, so viele...ich hätte nie gedacht, daß es so viele sind." -
"Ja Sunne, du trägst nun eyn schwere Bürden mit dir.
Sie alle glauben an dich und Brandes. Es hat sich herumgesprochen, die Mär vom fernen Land wo die Äcker fruchtbar sind." -
"Was, aber wird aus Euch werden, Vatter. Ich wünscht' Ihr könntet diesen Zuge führen.", Albrecht unterbrach
ihn mit väterlicher Geste: "Du wissest, min Jungen, dein Vatter stehet in der Lehnspflichte. Die Franken unter den Söhnen
Chlodwigs haben die Grenzen unseres Reiches heuer übertreten. Es wird bald zum Kampfe kommen und ich werde an der
Seite des Königs sterben, wenn es seyen muß."
Thoralf sah betreten zu Boden. "Verzage nicht, mein Sohn. Ich bin alt und habe vieles erlebt, Schlachten
geschlagen, deine bezaubernde Mutter zum Weibe genommen; sie schenkte mir eine wunderschöne Tochter und einen Sohn,
der eines Herrschers würdig ist. Wenn Wotan es will, daß mich seine Wallküren in dieser letzten Schlacht mit sich nehmen,
dann werde ich frohen Mutes in den Kampfe ziehen, weil ich weiß, daß unser Hause in dir weiterleben wird."
So standen Vater und Sohn auf der Höh' und schauten zu, wie sich ein ganzes Volk zum Marsche sammelte.
Thoralf entdeckte am Ende der Talsohle eine Staubwolke, die nur von Reiterei herrühren konnte:
"Siehe Vatter, am Fuße des hinteren Hügels...eine Reiterschar!" - "Ja, Thoralf. Hermenefried hat zugleich in diesem
Tale die Heerschau angeordnet. Jeder Lehnsmanne wird mit seinen Kriegern hier rasten bis das der Zuge sich in
Gang gesetzt."

Bis zum Mittsommertag waren einige Tausendschaften aus allen Teilen des Reiches an die Unstrut gekommen und hielten
dort nun ebenfalls Lager. Um die Mittagszeit kam ein königlicher Bote an das Lager der Erpfer geritten und betrat
das Zelt: "Thoralf zur Erpf, König Hermenfried erwartet Euch in seiner Heeresresidenz. Reitet mit mir!"
Warum schickte der König nach dem Sohne Albrechts?
Thoralf ritt entlang den unzähligen Zelten des Fußvolkes bis er an ein Lager kam, das mit dem königlichen
Symbol der Hermunduren versehen ward. Das war die Heeresresidenz Hermenfrieds. So stieg der junge Erpfer ab
und gab den Wachen bescheid um zum König vortreten zu dürfen.
"Ah, der junge Herr von der Erpfe. Tritt näher Thoralf!", sprach Hermenefried ruhig. Thoralf sah sich etwas unsicher
um, denn er war dem König noch nie so nah gegenübergetreten und doch hatte er nach ihm schicken lassen.
"Herr, Ihr verlangtet nach mir?", entgegnete Thoralf und reckte die Schultern.
Hermenefried begann: "Thoralf, wie ich sehe verlaufen die Vorbereitungen für den Volksmarsch recht gut. Es gibt
keinen Streit unter den Sippen. Man erkennt Dich als Herrn dieses neuen Völkleyns an. Schon morgen ist die Zeit
gekommen, an dem sich viele Familien lebewohl sagen werden müssen. Der Weg wird voller Gefahren sein und da die
Merowinger bereits in unseren Landen sind, sollte Dein Zuge über eyn Geleit aus streitbaren Recken verfügen, die
dem Volke bei der Wanderung Schutze verleihen."
Thoralf machte ein leicht verwundertes Gesichte, aber das schien den König nicht zu stören.
"Höre Thoralf, ich werde Dir eine Tausendschaft meiner Fußkrieger in Deine Dienste stellen, sowie dreihundert
tapfere, kampferprobte Reiter aus dem Ostgotenreiche."
'Die Ostgoten?', dachte sich Thoralf, 'war die Allianz beider Reich durch den Tode Theoderichs nicht erloschen?'.
Er sah den König fragend an, aber da trat wie auf Stichwort ein großgewachsener Recke aus einer Nische des
Herrenzeltes hervor. Er trug an seiner Gürteltasche die Insignien Theoderichs. Es mußte ein Heerführer der
sagenhaften Gotenreiterei sein, denn ihn kleidete der legendäre leichte Plattenwams und sein Haupte trug
den arianisch verzierten Kappenhelm mit Nasenschutz. Und ei, was hatte diese Reiterei für einen Ruf.
Sie waren die mächtigste Kriegswaffe, der bekannten Welt, seit die Hunnen über dieses Land fegten.
Unter den donnernden Hufschlägen der gepanzerten Pferde bebte die Erde.
Sie ritten dicht an dicht den Feinde gnadenlos nieder oder spießten auf, diejenigen, die
solch eine Walze zu überleben vermochten. So trat der stolze Reiter vor Thoralf und kniete:
"Herr, ich bin Rhonegar; und ich gelobe hiero vor des Königs Antlitz, nicht mehr von des Volkeszuges Seit'
zu weichen, so es mich und meinen Mannen das Leben kosten mag." - "Ich dank Euch, edler Rhonegar. Es soll Euren
Reitern an nichts fehlen!"
So erhob sich der Hüne und stellte sich auf die Seite Thoralfs und raunte ihm zu: "Das wird ein trefflich Abenteuer, junger Herr."
"Bleiben noch die Fußsoldaten...", fuhr Hermenefried fort, "Dein Oheim Eckewarth soll Hofmeier des neuen Volkes werden
und die thüringischen Kämpfer führen. Er ist sehr erfahren und hat ein großes Ansehen unter meinen Kriegern.
Gib ihm bescheid, daß er sich die tausend tapfersten in seine Reihen hole. SO SEY ES", sprach der König.
"Dank Euch, mein Herr, für Euer Vertrauen" entgegnete Thoralf, senkte sein Haupt und kniete vor Hermenefried nieder.
"Erhebe Dich, junger Erpfer, Du bist nun Herr über ein ganzes Volke. Mögen die Götter Dir den Wege ebnen!"

So war es getan und Thoralf verließ mit Rhonegar das Zelt des Königs.
"Haltet Eure Mannen bereit, Rhonegar, Morgen werde ich zum Aufbruch rufen!"
Und so ritt jeder für sich in sein Lager zurück.
Als der Abend heranbrach ließ Thoralf alle Sippenvertreter des Wandervolkes zu sich rufen und teilte ihnen
mit, daß am nächsten Morgen in aller Frühe der Marsch beginne und sie noch heute alles für die Reise bereiten
sollten. Thoralf war viel zu aufgeregt um auch nur an Schlaf zu denken. Deshalb trat er vor das Zelt und beobachtete
die zahllosen Lagerfeuer zu beiden Ufern des Flußes und lauschte dem emsigen Treiben, Hammerschlägen der Schmiede,
dem Lachen und Weinen der Kinder.
Da trat plötzlich Hoyer Brandes an seine Seite: "Nun, Thoralf, bist du bereit diesen Weg zu beschreiten?" -
"Ja...", hauchte er, "aber ich habe Angst, Herr Brandes, Furchtbare Angst ich könnte versagen!", und blickte Hoyer
hilfesuchend an. Brandes reckte sich: "Ihr seid nun so etwas wie ein Heerkönig in der alten Zeit, junger Herr." -
"Nicht doch Ihr, Herr Brandes, nennt mich nicht 'Herr'. Ihr kennt mich schon, da ich der kleine Wenri war."
Hoyer lächelte und klopfte Thoralf auf die Schulter: "Aber was ist ein König ohne ein Schwert, das sein Volke
vereint?", Hoyer zog einen in schlichtes Leinentuch gehüllten Gegenstand unter seinem Mantel hervor.
"Was ist das?", fragte Thoralf. "Das, mein Junge soll Dein Schwerte sein!", Brandes entledigte es dem Tuche und
rammte den wuchtigen Zweihänder vor sich in den Boden. "GREIF ES !"
Thoralf zögerte kurz, dann faßte er das Schwerte am Schaft und zog es in die Höhe.
"Das ist Runnewehr, Thoralf. Es ist mehr als hundert Jahre alt und trägt die Insignien des sagenhaften Schmiedemeisters
Mimer, der einst vor langer Zeit den Helden Siegfried als seinen Lehrbub hatte. Keiner weiß wie oft Mimer dieses Eisen
faltete bevor es zum Schwerte wurde."
Thoralf wog Runnewehr in seiner Rechten. Trotz das dieses Ungetüm gut zehn Pfund wiegen mochte, war es so trefflich
ausbalanciert, daß es sich führen ließ wie ein römisches Kurzschwert. Thoralf vollzog einige kurze Übungen bis er
es in die Scheide stieß und zu Brandes rief: "JA, DAS IST ES! Wahrhaftig eines Königs würdig!"
So fingen sie beide an zu lachen und begaben sich wieder ins Zelt. Der weise Hoyer hatte ihm die Zweifel genommen
und Thoralf schlief fest bis zum Morgengrauen.
Ammon Trunneborg,
Kämmerer und Schreiber am Hofe zu
Erphesfurt, Hauptstadt Thuringias
Benutzeravatar
Ammon
r_novice

r_novice
Beiträge: 27
Registriert: Mi Okt 13, 2004 8:36 pm
Wohnort: Erphesfurt / Thuringia

Beitrag von Ammon »

4. Kapitel Abschied

Der mächtige Zug aus Fußvolke, Ochsenkarren und Pferden wälzte sich bereits seit mehreren Stunden
Richtung Nordwesten aus dem Unstruttale.
Thoralf stand seiner Schwester Anne gegenüber und schickte sich an, von seiner Familie für immer
Abschied zu nehmen. Anne sah ihn aus ihren verweinten Augen an und reichte dem Bruder eine bronzene Fibel.
Als Thoralf sie nahm griff Anne seine Hand: "Soll sie dir nicht nur dein Gewande, so auch
dein Geiste und Verstande beisammen halten, mein Bruoder."
Thoralf strich über ihr Haar und gab ihr einen Kuss auf die Stirne und wandte sich seiner Mutter Uthe
zu. Sie nahm ihr Söhnelein kurzerhand in die Arme, denn was gab es in diesem Augenblicke schon für
Worte zu wechseln.
Albrecht und sein Sohn fassten sich im festen Griff an den Schultern: "Sun, du machst mich stolz, wie
nur eyn Vatter seyn kann! Gehe hin undt fihr se an en better Orthe!"
In diesem Moment ritt Eckewarth mit einigen gotischen Reitern heran und rief zu seiner Sippe:
"Reiß dich los, mein Bruoder...oder soll das Volke ohne Herrn von hinnen ziehen?"
Unwillkürlich mußte Albrecht lächeln, wie er so seinen jüngeren Bruder im Sattel sitzen sah.
Bild
Originalquelle Bildmaterial: ZDF Dokumentation "sturm über europa"
Thoralf schwang sich auf seinen Kaltblüter, wandte seinen Blick noch einmal zurück und ritt darauf hin
in Richtung der Zugspitze. Auf halber Strecke schloß ein weiterer Reiter zu ihm auf.
Auf den zweiten Blick erkannte Thoralf den Kämmerer Ammon und schaute ungläubig zu ihm herüber.
"Falls Ihr dachtet, meyn junger Herr, Ihr künnet die mitgeführte Chammer all bey Ewch selb verwalten,
muss ich Ewch entäuschen!", rief Ammon, lachte lauthals los und gab seinem Roß die Sporen.
'Na dann sind wir ja in besten Händen', dachte Thoralf bei sich und sprengte im gestrecktem Galopp
hinterdrein. Es galt Hoyer Brandes an der Spitze der Wanderung einzuholen, denn dieser war schon Meilen
vor ihm.

Eckewarth schloß derweil von der Nachhut zur Zugmitte auf.
Er hatte etwa eine Stunde zuvor das Gesamtbild der Wanderung von einem Hügel aus betrachtet.
Ein Schauer ward ihm über den Rücken geronnen. Es mußten gut
zwanzigtausend Männer, Frauen und Kinder sein. Aufgereiht wie in einer gigantischen Perlenkette ergossen
sie sich über den Handelsweg. Nun trabte er gemächlich an einem Wagen vorbei auf dem just eine Flöte
zu klingen begann. Eckewarth erkannte den Spielmann Gundahar und lauschte für eine Weile seinen
Melodien und dem Singreime, den er begann.

"...Wandre meyn Kindleyn an fremdere Orthe / durchstreyfe de Hayden im nächteligen Scheyn /
ladt eyn all deyn habe, deyn guth un' deyn horthe / zurück lasz deyn Hûs undt kehr nimmermer heym..."

Als Eckewarth dies so hörte begriff er nun vollends die Tragweite ihres Entschlusses. Sie würden ihre
Heimat niemehr wieder sehen. Viele würden den beschwerlichen Wege nicht überleben. Ganz davon zu
schweigen, was ihnen an Feindschaft drohte; mußten sie doch durch fränkische und sächsische Ländereien ziehen.
Wachsam mußte Eckewarth sein, wachsam wie ein Luchs!


...Ammons Hände beginnen zu zittern als er diese Zeilen vollendet. Tiefe Trauer für die Zurückgebliebenen
und bitteres Heimweh ergreifen Besitz von seinem Verstand. Alsbald fallen einige salzige Tropfen auf
das Pergament unter Ammons wimmernder, gekrümmter Gestallt. Doch schnell schon fasst er sich wieder,
steht von seinem Pulte auf und begibt sich auf den Söller der neuen Residenz und schnappt etwas frische Luft...
Zuletzt geändert von Ammon am Mi Jan 26, 2005 10:39 pm, insgesamt 2-mal geändert.
Ammon Trunneborg,
Kämmerer und Schreiber am Hofe zu
Erphesfurt, Hauptstadt Thuringias
Benutzeravatar
Ammon
r_novice

r_novice
Beiträge: 27
Registriert: Mi Okt 13, 2004 8:36 pm
Wohnort: Erphesfurt / Thuringia

Beitrag von Ammon »

5. Kapitel Feindesland
Bild
Originalquelle Bildmaterial: ZDF Dokumentation "sturm über europa"

Brandes hatte den Weg linkerseits der Elbe gewählt. Sie würde ihnen den rechten Pfad bis hinauf zur Waterkanten
weisen, von wo aus es nicht mehr weit nach dem Lande der Jüten war. Dort würden sie auf Freunde treffen.
Gut einen Monde nach dem Aufbruch aus den Unstrutauen erreichte die Vorhut des Zuges die Gestade der niederen
Elbe. Von Osten her war hier kein Überqueren möglich, somit drohte von dort kein Unheil.
Wohl aber aus dem Westen.
Die kleine Reiterschar bezog einige Meilen vor dem großen Zuge Posten auf einer Anhöhe, um nach feindlich
Heer Ausschau zu halten. Doch oh weh, was bot sich ihnen für ein Anblick als sie nach Westen unterhalb
der Höhe blickten. Dort hielt ein fränkischer Heerhaufen Lager. Und auch die mußten Kundschafter in naher
Umgebung haben. Sie würden den Zug erspähen, erkennen woher er komme, und mit dem riesigen Strom im Rücken
gäbe es für die Thüringer ein bitterböses Ende. Bewegte sich doch das Volke so unauffällig wie eine
wilde Bärenmutter in der Dorfschenke.
Sobald sprang einer der Reiter auf sein Roß und jagte die Anhöhe hinab dem Zuge entgegen, um Thoralf
über die drohende Gefahr zu berichten.

Thoralf, Hoyer und Rhonegar ritten langsamen Schrittes an der Spitze des Zuges als der Bote sie völlig
erschöpft erreichte und über das Gesehene berichtete.
Thoralf begriff sofort, daß sie hier um einen Kampfe nicht herumkamen und wandte sich Rhonegar zu:
"Höre! Gib Bescheid, daß die Gespanne sich zu vielen Wagenburgen bilden sollen. Jeder Mann und Knabe, der
ein Schwerte halten kann soll sich wappnen. So auch de Frouwen. Nehmt zweihundert Ewrer Reiter und kümmet
wieder hierher. Die restlichen lasset bei den Wagenvesten!"
Rhonegar nickte kurz und eilte im Galopp zu seinen Recken. Thoralf sprang vom Roß und lief zum ersten
thüringischen Krieger an der Flanke des Zuges und sagte ihm er solle die ganze Tausendschaft nach vorne
sammeln. Es würde ein Kampfe anstehen.
Unterdessen war der Bote zu Atem gekommen und hatte Hoyer Brandes über die Lage des fränkischen Heeres und
deren Zahl unterrichtet. Es waren etwa zweitausend Mannen, gut gerüstet, aber keine Reiterei.
"Muß wohl ein Teil eines großen Heeres sein, der Richtung Osten Vorposten hält", mutmaßte Brandes ruhig.
Da stoben die restlichen Reiter der Vorhut heran. Sie waren recht zerzaust und die Gesichter einiger
besprenkelt mit Blut. "WAS IST GESCHEHEN!", rief ihnen Thoralf entgegen. Einer kam zu ihm: "Herr, wir
konnten eine Schar fränkischer Kundschafter ausfindig machen. Sie waren gerad' auf dem Wege hierher.
Bis auf zwei haben wir sie niedergemacht!" - "Sie wissen also jetzt, daß wir hier sind!", sagte Thoralf,
"Lasst sie kommen, nur dürfen sie keinen einzigen gotischen Reiter sehen. Die sollen unsere List seyn!"

In aller Eile fuhren die vielen Karren in Kreisen zusammen, flüchtete das Reisevolke in diese Wanderburgen.
Aus dem Getümmel rannten noch immer einige Mannen der Flankensicherung zum Sammelpunkte. Auch Eckewarth
erreichte endlich seinen Haufen, sprang ab und gab dem Roß einen Klapps.
Sogleich ordnete er seine Recken und stimmte sie auf die kommende Schlacht ein:

Dorth treff ih den mina vatter /
Dorth treff ih mina muoter, mina swister endi mina brüoder /
Dorth treff ih all jene van mina anenrey /
Sie ruffen aldar after mir /
Sie bidan mih eynzunemen mina plathze unda inen /
Achter den thoren thes Wallhall wo di muthigen
mannen will liven allforth


So auch Rhonegar. Er scharte seine Reiter um sich und sie alle stiegen von ihren Rössern und knieten vor
dem Feldherren um, ihrem arianischen Glauben folgend, ein gemeinsames Vaterunser zu beten.
Und so hob Rhonegar an:

Atta unsar, thu in himinam, weihnai namo Dein.
Qimai diudinassus Deins.
Wairthai wilja Deins, swe in himina jah ana airdai.
Hlaif unsarana Dana sinteinan gif uns himma daga.
Jah aflet uns thatei skulans sijaima,
swaswe jah weis afletam Daim skulam unsaraim.
Jah ni briggais uns in fraistubnjai, ak lausei uns af damma ubilin.
Unte Deina ist diudangardi jah mahts jah wulthus in aiwins.


Sodann saßen sie auf und ritten voller Eile in ein Waldstück an der linken Flanke des thüringischen Heeres
und gaben Acht, daß kein Franke sie entdecken konnte.
Da tauchten am Horizont bereits die ersten Merowingerbanner auf und das Frankenheer marschierte dicht an
dicht auf die Heide zu wo Thoralf, Eckewarth und die gesamte Tausendschaft standen und der Dinge ausharrten.
Für kurze Zeit hielten beide Heere voreinander stille und Thoralf war es, als würden Stunden vergehen, in
denen er nicht wüsste was zu tun ist. Eckwarth aber kannte dieses Gefühl und tat das, was ein Krieger dagegen
zur Wehr setzen kann. Er nahm seinen Rundschild vor den Mund und begann rhytmisch mit seinem Streithammer
gegen den Schildbeschlag zu hämmern. Dabei rauhnte er laut und mit tiefer Stimme einen uralten Kriegsgesang.
Bald schon packte es die restlichen Mannen und auch Thoralf zog Runnewehr aus der Scheide, schlug gegen
seinen Schild und stimmte in den finsteren Ton ein.
Das ließen die Franken gegenüber freilich nicht lange auf sich sitzen und rannten ihrerseits mit tosendem
Geschrei auf die Thüringer los. Und nun war es auch mit deren Geduld am Ende. Eckewarth schwang seinen
Hammer in die Höhe und lief gröhlend gegen den Feind.

Mit fürchterlichem Krachen und Splittern trafen die Schlachtreihen aufeinander. Eckewarth stieß den erstbesten
Gegner mit dem Schilde nieder und rannte schlicht über ihn hinweg, um dem nachfolgenden mit einem wuchtigen
Schlag den Schädel zu zertrümmern. Thoralf befand sich inmitten des Getümmels. Ein Franke rannte mit gezücktem
Schwerte auf ihn zu und holte aus. Doch Thoralf verkürzte den Abstand zu ihm und beide prallten ineinander.
Benommen taumelte der Gegner einige Klafter zurück. Thoralf setzte nach und hieb Runnewehr mit barbarischem
Schrei dem Recken vom Schlüsselbein bis tief in den Brustkorb, worauf der mit dumpfem Schlag niedersank und
sich nimmer erhob.
Bild
Originalquelle Bildmaterial: ZDF Dokumentation "sturm über europa"
Die Schlacht war nun voll entbrannt und die zweite Reihe der Franken schickte sich zum Kampfe.
Da gab Thoralf einigen Bogenschützen am Rande das Zeichen für die Reiter. Geschwind spannten sie die Sehnen
ihrer Bögen und schon schwirrten Pfeile in Richtung des Waldstückes.
Rhonegards Roß schreckte auf als einer der Pfeile neben ihm in einem Baum traf. Das war das Signal!
Er zog seinen Ger und gab dem Pferd die Sporen. Mit donnerndem Hufschlag ritten nun die Goten gegen die Flanke
der anstürmenden Merowinger. Diese wurden der Bedrohung viel zu spät gewahr und so zerplitterten die
Gebeine hunderter Krieger unter den schweren Kaltblütern, daß ihnen eine heiße Angst ward.
Rhonegar konnte den Hauptmann der zweiten Tausendschaft ausmachen, ritt auf ihn zu und schleuderte ihm kurzerhand
seinen Ger in die Brust. Trotz dieser List und dem nahenden Sieg waren die Franken streitbare Recken. So mußte
auch Thoralf, so trefflich er auch sein Schwerte führte, mit ansehen wie viele seiner Mannen enthauptet oder aus
tiefen Wunden blutent für immer in das Heidegras sanken.
Als die Sonne langsam den Horizont berührte rannten die letzten Franken davon. Doch Thoralf war wie besessen.
"RHONEGAR", schrie er, "LASST KEINEN ENTKOMMEN...KEINER DARF BOTSCHAFT BRINGEN!". Schon jagte eine Gruppe
Goten hinterher und bald darauf war keiner der Flüchtenden mehr am Leben.
Thoralf und sein Oheim trafen sich völlig erschöpft am Rande des Feldes. Eckewarth klaffte eine tiefe Schnittwunde
auf der linken Hälfte seines Anlitzes. Mit letzter Kraft rammte er seinen mit Blut und Haarfetzen übersähten Hammer auf
den Boden und ließ sich ins Gras fallen. Thoralf schnaufte tief und stütze sich auf sein Runnewehr.
"Für heut' bin ich des Kämpfens müd", sprach Eckewarth heiser, "wir sollten alsbald sammeln und zurück zu den
Wagenburgen. Es wird nicht viel Zeit für Rast und Trost bleiben." - "Recht hast du Oheim", erwiderte Thoralf,
"wir müssen baldigst fort von hier...sonst wird uns dieser Sieg teuer zu stehen kommen!"
Sodann rafften sie sich auf und führten ihre entkräfteten Mannen zu den Familien, die voller Angst hinter ihren
Wagen in der Elb-Aue warteten. Sie hatten an diesem Abend die Hälfte ihrer schützenden Recken verloren und auch
Rhonegar schaute trübe drein, denn er sah noch auf dem Felde seinen Cousin erschlagen neben seinem Pferde liegen.

Hoyer Brandes starrte, an der offenen Stelle der größten Wagenburg stehend, in Richtung der sich langsam
nähernden Heerschar. Als er sah, daß es die ihren waren wollte er schon zum Jubel anheben. Doch nun
erkannte Brandes wie sehr der Haufen geschrumpft war und seine Gesichtszüge legten sich in Sorgenfalten.
Die Recken betraten in Gruppen das Innere des großen Wagenrundes. Brandes begann mit seinem Stab gegen die
Planke eines Wagens zu schlagen, in dem gleichen rhytmischen Takt mit dem Eckewarth Stunden zuvor seinen Mannen
auf dem Felde Mut machte. Alte, Bauern, Frauen und Kinder stimmten mit ein bis das Klopfen zu einem Tosen
innerhalb der Schutzburg anschwoll. Eckewarth hob seinen Hammer, reckte sein Haupt gen Abendhimmel und stieß mit
lautem Geschrei los: "THOOOORR, THOOOR, Chihori dhu? Hearo sindun uuir! Nimez thu dhir all di muthig mannen!"

In dieser Nacht sandte Wotan seine Wallküren aus Asgard auf das Heidefeld und der Schweif ihrer Himmelsrösser
erhellte das Sternenzelt. Thoralf lag wach auf der Pritsche eines Wagens, lauschte den ruhigen Klängen Gundahar's
Flöte und folgte mit den Augen dem Nordlicht Wotans Reiterinnen.
Zuletzt geändert von Ammon am Do Dez 30, 2004 8:17 pm, insgesamt 2-mal geändert.
Ammon Trunneborg,
Kämmerer und Schreiber am Hofe zu
Erphesfurt, Hauptstadt Thuringias
Benutzeravatar
Ammon
r_novice

r_novice
Beiträge: 27
Registriert: Mi Okt 13, 2004 8:36 pm
Wohnort: Erphesfurt / Thuringia

Kapitel 6

Beitrag von Ammon »

6. Kapitel Preis des Sieges

Entlang der Elbe schob sich der Zug weiter gen Norden. Woche für Woche. Monat für Monat. Die Reise war beschwerlich
und die Masse kam nur langsam voran. Hoyer Brandes hatte der Vorhut den Auftrag gegeben sofort zu melden, wenn sie
eine mögliche Furt über die Elbe ausgemacht hätten.
Es wurde allerhöchste Zeit diesen ungeheuren Strom zu überwinden, um den Weg nach Jütland einzuschlagen.
Doch weit und breit bot der Fluß keine seichte Stelle und so hielt Brandes selbst Ausschau.
Er fand einen Platz wo die Strömung der Elbe nicht allzu stark schien und gab Nachricht den Trek anzuhalten.
Flöße mußten her! So wurden erneut die Karren mit Hab und Gut zu Wagenburgen zusammengefahren,
denn das Bauen so vieler Flöße bedurfte Zeit. Die aber war knapp. Jederzeit konnten Franken oder Sachsen dem Volke
gefährlich werden.
Im Nebelung des Jahres 531 begab sich jeder Thüringer, der eine Axt halten konnte in die Waldungen unweit der Elbauen.
Hunderte Baumstämme wurden geschlagen. Mann und Zugtier, auch die stolzen Rösser der Goten, gaben was sie konnten
um das Holz aus den Wäldern zu rücken. In der Au, am Ufer der Elbe wurden die Stämme Tag und Nacht zusammengebunden.
Während einige Hundert Männer und Frauen noch am Binden waren, setzten bereits die ersten Familien über
den Fluß. An Bord immer ein Mitglied der nächsten Sippe, der das Floß zurückruderte, um die Seinen und einen
Angehörigen der Folgenden aufzunehmen, und so ging es immer fort, Tag für Tag.
Bild
Originalquelle Bildmaterial: ZDF Dokumentation "sturm über europa"
Die Hälfte des bunten Volkes aus Warnen, Angeln und Hermunduren war bereits übergesetzt und auch Rhonegars
Reiter schickten sich an den Fluß zu überqueren.
Doch lagerten noch tausende in weitem Bogen am Westufer und warteten bis das
nächstbeste Floß frei würde. Eckewarth und Thoralf wechselten während der Zeit des Übersetzens häufig von der
einen auf die andere Flußseite, um nach dem Rechten zu sehen. So fuhren sie unter den reisenden Sippen mal hinüber ans
rechte, dann nur an der Seite eines Rückholers wieder ans linke Ufer. Hoyer war unterdessen schon einen guten Tagesmarsch
voraus entlang dem Ostufer der Elbe. Eines späten Abends machten sich die beiden Erpfer daran mit einer weiteren Sippe
überzusetzen. Sie waren müde vom Tage und wollten auf die Ostseite zu ihrem Nachtlager. Im Schein einiger Fakeln
packten sie mit an, den schweren Karren samt Ochsen einer anglischen Familie auf die Holzbohlen zu bugsieren.
Es war eine Sippe, die erst vor kurzem dem Volke hinzugestoßen war, als sie hörten wohin die Reise gehen sollte.
Das Familienoberhaupt reichte Eckewarth zum Danke einen gut gefüllten Trinksack. Thoralf blickte in die kleine
Runde: "Wie heißt ihr, meine Freunde?" - "Ethelfried...", erwiderte der Vater,"...dhan mina firste Sun Beowin, Angus mina
ander Sun un' Igerna, min aelderst Dochter...", Ethelfried wies auf den Karren. Thoralf sah hinüber und
zugleich in die schönsten Äuglein, die ihn sein Lebtag angestrahlt hatten. Für einen Moment trafen sich ihre Blicke
und wollten nicht mehr voneinander bis Igerna lächelte und verlegen zu ihrem Vater schaute.
"Euer Weib, Ethelfried, seyed Ihr...", der Vater unterbrach Thoralf, "Amalagret starb als sie meinen beiden jüngsten das
Leben schenkte. Sie liegen auf dem Wagen und schlafen schon, Igerna gibt auf sie acht."
Thoralf sah betreten zu Boden, doch Ethelfried durchbrach das Schweigen: "...alles geht weiter. Die Götter wollten sie
und so holten sie sie zu sich."

In der Flußmitte angelangt drang plötzlich Wehklagen und Geschrei vom Westufer an ihre Ohren.
Das Dröhnen von Hufen hunderter Rößer und Waffengeklirr mischte sich unter die Schreie, und Thoralf sah mit
Entsetzen wie dort die ersten Karren in Flammen auf gingen.
"ohh nein... NEIN...", stammelte Thoralf und stolperte wie von Sinnen über das Floß.
Er war hier zur Untätigkeit verdammt. Jeder auf dem Floße griff nach etwas, was einem Ruder ähnelte und paddelte
was die Kräfte hergaben, um die Sippe ans rettende Ufer zu bringen.
Drüben krallten sich Flüchtende verzweifelt an lose Stämme, ließen sich auf die Elbe treiben oder sprangen gar
so wie sie waren in das Wasser, nur um dem Feinde zu entkommen.
Einige tapfere Familienväter und ihre Söhne griffen am Westufer zu den Waffen, versuchten es dem Heer aus Franken
und Sachsen nicht allzuleicht zumachen. Doch es war ein ungleicher Kampf und endete im Gemetzel, ohne das die
Erpfer, thüringische Krieger oder Rhonegars Mannen hätten eingreifen können.

Wer nicht von Speer, Pfeil und Schwerte getötet oder schlichtweg niedergeritten wurde, verbrannte lebendigen Leibes
in der Wagenburg, ertrank oder erfror in den spätherbstlichen, bitterkalten Fluten der Elbe. Als die anglische Familie
am Ostufer fußgefaßt hatte tauschte man nur kurze, flüchtige Blicke. Eckewarth stieß das Floß sofort wieder zurück ins
Wasser und hielt auf das, unter gespenstischem Feuerschein liegende, Westufer zu. Thoralf sprang auf und ohne ein
weiteres Wort folgte Beowin ihm. Ethelfried nahm sich Angus vor: "Sun, du gibst auf alles acht, hörst du!", Angus mochte
gerade vierzehn oder fünfzehn Jahr alt sein, doch er sah seinem Vater selbstbewust in die Augen und versprach ihm
nicht von der Seite des Karrens zu weichen. So sprang auch Ethelfried auf das Floß und die vier taten alles daran, um
eiligst wieder über den Strom zu kommen.
Vom Osten her dämmerte schon blutrot der Morgen als die vier Recken das Westufer erreichten.
Bild
Originalquelle Bildmaterial: ZDF Dokumentation "sturm über europa"
Der Kampf war vorbei, das feindliche Heer davongezogen. Was blieb war ein gräulicher Anblick von verbrannten und
verstümmelten Leibern. Eckewarth schritt ohnmächtig durch den leichenbepflasterten Kreis einer Wagenburg.
Die Karren und Buden waren zu Asche vergangen. Einer der Leiber kam ihm bekannt vor...er ging hin und beugte sich
hinab. Im Staube fand er eine helle Knochenflöte.
Eckewarth drehte den, von einem Speer durchbohrten Leib zur Seite, um sein Antlitz zu sehen.
Da traf es ihn mit aller Gewissheit: "...Gundahar...", wisperte Eckewarth und hockte sich zu seinem alten Freund, nahm
Abschied von dem streitbaren Spielmanne. Oft hatten die beiden gerauft, hatten gemeinsam als junge Burschen den
Mädchen nachgestellt, Rücken an Rücken Kämpfe überstanden und bei so manchem Kruge Trinklieder geschmettert.
Thoralf indessen stand gelähmt von jäher Wut und unendlicher Trauer auf dem Feld des Schreckens.
Die gräßlichen Schreie wollten ihm nicht aus dem Kopf. Wieviele tausend Kinder, Frauen und Männer mochten hier liegen?
Mit Tränen in den Augen und von Krämpfen geschüttelt sank Thoralf auf die Knie.
So verharrte er stundenlang und wollte sich nicht mehr erheben. Ethelfried und Beowin traten zu ihm und halfen Thoralf
wieder auf die Füße: "Kommt Herr, die, die noch am Leben sind brauchen Euch nun um so mehr!"
Eckewarth nahm die Knochenflöte seines Freundes an sich und trottete mit seinen drei Kameraden zurück zum Floße.
Thoralf saß während der Überfahrt apathisch auf den Bohlen und versuchte neuen Mut zu schöpfen.
Der Winter stand vor der Türe. Es mußte eine Bleibe für die kalte Zeit gefunden werden. Die Nachhut des Zuges wartete
bereits am Ostufer mit einigen Pferden auf die vier Recken; Tage würde es dauern um den großen Treck einzuholen.
Zuletzt geändert von Ammon am Mi Jan 26, 2005 10:42 pm, insgesamt 2-mal geändert.
Ammon Trunneborg,
Kämmerer und Schreiber am Hofe zu
Erphesfurt, Hauptstadt Thuringias
Benutzeravatar
Ammon
r_novice

r_novice
Beiträge: 27
Registriert: Mi Okt 13, 2004 8:36 pm
Wohnort: Erphesfurt / Thuringia

Kapitel 7

Beitrag von Ammon »

7. Kapitel Heimat auf Zeit

Den Klauen des Feindes nun entgültig entkommen verharrte der Zug über die kalte Jahreszeit
nahe der großen Wälder und Moore Jütlands. Und was für ein bitterer Winter das war.
Die weit verstreuten Wagenburgen lagen unter dicken Schneedecken, und man hätte meinen
können, daß jeglich Leben erfroren sei. Doch hin und wieder sah man ein Grüpplein, pelzbewehrt
mit einer erlegten Wildsau oder einem Hirsch aus den Wäldern gen den Lagern stapfen.

Am Feuer in der Hütte der Erpfer saßen Ammon, Eckewarth und Thoralf mit Hoyer Brandes zusammen
und berieten, wie es zum Lenzing weitergehen sollte.
"Herr Brandes, wie lang müssen wir noch ziehen?" - "Nun, Thoralf, wenn der Lenzing anbricht werden
wir weiter nach Nordwesten wandern, bis an die Küste des großen Meeres. Dort kenne ich ein gutes
Flecklein, das einer größeren Siedlung Platz bietet. Wir müssen uns da einrichten, denn das Bauen
der vielen Boote für die große Reise bedürftet Zeit." - "Boote, Herr Brandes?" - "Ja, Thoralf...
Langboote mit Segelmast und Ruderbänken. Normalerweis tragen diese Boote etwa sechzig Krieger übers
Wasser. Nun, unsere müßten etwas größer geraten. Hundert sollten sie mindestens tragen können."
Thoralf lag viele Nächte des Winters wach. Das Lächeln und die tiefen Äuglein Igernas wollten ihm
nicht aus dem Kopfe. Doch hatte sich die Spur Ethelfrieds Sippe nach dem Überqueren
der Elbe in dem riesigen Zug verloren.
Bild
Originalquelle Bildmaterial: ZDF Dokumentation "sturm über europa"

Die Tage wurden schon wieder länger und all der Schnee begann langsam zu schmelzen. Da faßte Brandes
den Entschluß, die Wanderung an die Westküste Jütlands fortzusetzen.
Wieder wurde alle Habe auf die Karren gepackt und die Wintersiedlung zurückgelassen.
Gefahr drohte nun keine mehr und es gab allerlei Kurzweil während der Wanderschaft. In den Rastlagern
unter dem Abend und Nachthimmel spielten Gaukler, trank man reichlich Met am Lagerfeuer.

Zum Brachet 532 der Christenheit erreichte der Zug der Thüringer, mittlerweile ein buntes Volke aus
Hermunduren, Angeln, Warnen, Langobarden, einigen Slawen und gotischen Reitern, die Gestade des
großen Meeres. Hoyer Brandes atmete tief die salzige Küstenluft ein, die er so lange hatte entbehren müssen.
er blickte sich um und suchte mit forschenden Augen das Hinterland ab. Genug Wald und Äcker gab es auch.
Wo waren nur die ganzen Jüten geblieben. Als er vor Jahren hier von Tamar erfuhr, hörte er bei
vielen, sie wollten weg von hier nach Britanien. 'Hmmm...', dachte sich Brandes, '...einige werden ihr
Glück wohl schon versucht haben..'
"Hier wollen wir siedeln, Thoralf. Der Boden ist zwar recht karg und gibt nicht viel her, aber für
die Zeit des Bootsbaus solls genügen." - "WOHLAN ", rief Thoralf und winkte Ammon zu sich:
"Trage Sorge, daß sich alle Sippen hier im großen Umkreis ansiedeln und sehen sollen, ob die Böden
schon etwas hergeben; und sie sollen den Winterweizen aussäen!"
Thoralf wandte sich um und sah wie Brandes sich anschickte nach Norden davon zu reiten.
"HERR BRANDES...WOHIN REITET IHR NOCH?" - "KEINE SORGE JUNGER HERR", rief Brandes, "ICH WERDE MIT EINIGEN
JÜTEN IN BÄLDE ZURÜCKKEHREN, DANN BEGINNEN WIR MIT DEM BOOTSBAU!"
Eckewarth stob Brandes hinterher: "Keine Sorg' min Neffen, ih werdt ime nicht von Seyten weichen!"
Bild
Originalquelle Bildmaterial: ZDF Dokumentation "sturm über europa"
Langsam und von einer gewissen Zufriedenheit erfüllt, den großen Zuge trotz so vieler durchstandenen
Schrecken an die Küste Jütlands geführt zu haben, schlenderte Thoralf zwischen den ankommenden
Karren und Siedlern, die nun von der Küste ausgehend in das Hinterland strömten, um alsbald die Äcker
urbar zu machen. Er sah viele Entbehrungen in den Gesichtern der Frauen, Kinder und Männer. Viele hatten
bei dem Massaker an der Elbe Angehörige verloren und auch der letzte Winter hatte so manches Opfer gefordert.
Und da waren sie wieder, die tiefsten, schönsten Augen. Thoralf berührte ergriffen die bronzene Fibel, die
ihm einst seine Schwester gab und dankte Freya, der dieses Stück gewidmet war, für solches Glück.
Igerna verhielt des Schrittes. Ihr Herz klopfte aufgeregt, denn auch sie hatte viele Nächte wachgelegen
und sich nach dem durischen Recken gesehnt. Bittend sah sie zu ihrem Vater Ethelfried.
Der musterte kurz beide mit prüfendem Blicke und lächelte seiner Tochter gütig zu: "Geh' schon Igerna..."
Ohne weitere Worte liefen beide aufeinander zu, ließen sie alle Last und Leid der letzten schweren Monate
hinter sich und sanken einander in die Arme.

...Ammon erinnert sich an diesen freudigen Moment und lächelt in sich hinein.
So glücklich hatte er seinen Herrn nicht während der Wanderung noch seit der Ankunft auf Tamar gesehn.
Mochte das wohl auch daran liegen, daß Igerna die lange Reise in die neue Welt nicht antreten würde...
Ammon Trunneborg,
Kämmerer und Schreiber am Hofe zu
Erphesfurt, Hauptstadt Thuringias
Benutzeravatar
Ammon
r_novice

r_novice
Beiträge: 27
Registriert: Mi Okt 13, 2004 8:36 pm
Wohnort: Erphesfurt / Thuringia

Kapitel 8

Beitrag von Ammon »

8. Kapitel Auf hundert Kielen

Blutrot senkte sich die Sonnenscheibe am Horizont ins Mare Germanicvm. Igerna und Thoralf saßen Hand in
Hand zwischen den Dünen, und beide lauschten wortlos dem Geschrei der Möwen, den heulenden Winden und Rauschen
der Wellen.
Thoralf sah Igerna in die Augen: "Min Leevste, thu trägst eyn Last mit dir. Sprich, was betrübt thein Herze
an diesem festlichen Tage?" - "Leevster, min Atta...der guthe Ethelfried ist krank. Der letzte Winter hat
ime arg zugesetzt. Angus ist noch zu jung, umb all die schwere Arbeit auf dem Hofe allein zu thun. Beowin
wird mit seinem Uueive auf die Fahrt gen Tamar gehen. Die kleinen haben keine Muoter; Thoralf: ich werde
hier bleiben, mich umb meinen Vater undt die jüngsten sorgen."
Thoralfs Ahnung war bestätigt. Er nahm seine Liebste fest in die Arme: "Gern hätt ich unser Kindleyn auf
diese Welt kommen sehen, das in deinem Leibe wächst. Doch weiß ich, dhasz du deiner Sippe beistehen musst.
Erzähl dem Kinde über sein Atta undt sey ime die beste Muoter. Aber kumm nun Leevste, heute soll gefeiert werden.
Hundert Boote liegen an der Küste undt die grosze Fahrt wird bald beginnen."
Ein Lächeln huschte über ihr Antlitz und so nahm Thoralf Igerna bei der Hand und zusammen eilten sie in
die Siedlung, wo im Schein vieler Feuer ausgelassen das letzte Boot Betrunken wurde.
Schon von weitem konnte man das donnernde Lachen Hoyer Brandes' vernehmen. Der hatte die letzten anderthalb Jahre
sehr genossen, denn das rauhe Jütland war etwas wie seine zweite Heimat.
Eckewarth warf seinem Neffen ein großes Horn Met zu: "TRINK mein Freund!", hakte sich bei einer Magd ein und
tanzte wild mit ihr im Kreise. Beim Armdrücken zwischen rauhen Seefahrern und den aufbrechenden Siedlern
wurden Freundschaften geschloßen. Jütische Hünen und thüringische Krieger maßen ihr Geschick beim Axtwerfen.
So wurde gesungen, getanzt und getrunken bis zum frühen Morgen.

Eilige Geschäftigkeit erfüllte den Küstenstreifen der Siedlung zum Heuet des Jahres 533 der Christen.
Die Boote wurden beladen. Rhonegar und seine Recken verabschiedeten sich schweren Herzens von ihren Rössern.
Thoralf legte ein Ohr an den Bauch Igernas, erhob sich und gab ihr zum Abschied einen innigen Kuß. Er sehnte
sich nach der Ewigkeit dieses Momentes, doch hieß es ein Volk in ein fernes Land zu führen.
Der Wind stand günstig und die ersten Boote stachen vollbesetzt in See. An den Steuerrudern erfahrene und
abgebrühte Seefahrer Jütlands.
Thoralf sprang auf das Schiff Eckewarths. Er behielt die Küste im Auge so lange es möglich war. Hinter ihnen
reihte sich Boot für Boot mit straffen Segeln ein. Ein letztes Mal winkte er Igerna lebwohl bevor an den
Stegen kein Mensch mehr auszumachen war.
So sollte also die Fahrt über die tückische See beginnen.
Bild
Originalquelle Bildmaterial: ZDF Dokumentation "sturm über europa"

Tage später tauchte Land am nebligen Horizont auf. Zwischen einigen Schiffen wurden mittels derber
Schreierei Informationen ausgetauscht. Thoralf gesellte sich zu Hoyer Brandes am Bug und sah ihn fragend an:
"Was ist das für Geschrei da voraus?" - "Ein paar Angeln und Jüten sind sich wohl nicht einig, ob sie dort
in Britonien landen, wie viele Sippen ihres Volkes vor ihnen." - "Das dort ist also Britonien, Ihr wart
schon dort, nicht war? Wie ist es da?", Brandes streckte seinen grauen Bart in die Gischt und murrte:
"...rauhes Land, die Römer verließen's vor gut hundert Jahr. Seit dem gibts Zank und Zwist zwischen
Briten, Scoten, Pikten und den einwandernden Sachsen, Angeln und Jüten. Und auch untereinander, ein
stetes Hauen, Stechen und blutigh Morden." - "Und da wollen sie siedeln?" Thoralf verzog das Gesicht.
"Wenn sie's wollen, dann müssen wir sie ziehen lassen." sprach Brandes und zuckte mit den Schultern.
Nach dem Kurswechsel gen Norden bemerkte Thoralf wie ein gutes Dutzend Boote weiter auf die Küste
Ostangliens zuhielt. Eckewarth klopfte seinem Neffen auf die Schulter: "Ach lass nur Thoralf, mich
dünkt, se wollten eh dort hin. Uns steht ein trefflicheres Abenteuer bevor.", so lachte er donnernd los und
reichte Thoralf sein Trinkhorn.
"Wenn das der gute Albrecht sehen könnte...", so standen beide Erpfer an der Reeling und blickten dem
grauen Horizont entgegen. Was mochte wohl aus der geliebten Heimat geworden sein? Eine weitere Pfalz der
Franken? Wer weiß. Ihre Zukunft lag jenseits des Nebels.

Tosend bäumte sich die rauhe See gegen die Langboote. Zerfetzt standen viele Segel im Sturm und weiter
sandte Njord Wellen hoch wie Berge gegen die Schiffe, die wie vereinzelte Nußschalen auf ihnen einen schauderhaften
Tanz abhielten. Voller Entsetzen schrie Thoralf, dem die Wellengischt ins Gesicht spie, zu Brandes:
"'ER BRANDES UUIE LANG ZSOLL DIESZ TREYBEN GEHN, NJORD UUIRD UNSA ENDE SEYN!" doch der packte ihm am Arm:
" Nis nu lang te thiu, that thia stromem sculun stilrun uuerdan gi thit uuedar uunsam. Njord stelt unsa uf
de Proven, nis nu lang, gi sind ni fortha!!"
Augenblicke nachdem ihm Brandes, für Thoralf kaum verständlich, diese Worte des Mutes zugerufen hatte,

verzog sich urplötzlich dies gräuliche Wetter und das Nordmeer lag still wie der Tod. Eckewarth blickte
Steuerbord, Achtern und Voraus...er konnte keine anderen Boote mehr ausmachen. Alles war weiß von Nebelschwaden.
Der Schleier wurde immer dichter mit jedem Moment der verging, bis er selbst seinen Neffen nicht mehr neben
sich stehen sehen konnte.

"Uuas est nu uuida disz fûr an Speel ?" stammelte er...doch weiter mochte ihm nichts mehr einfallen, denn
es legte sich allseits Stille über's Deck. Eckewarth taumelte noch ein paar gute Klafter über die Planken
bevor auch er als letzter totmüde zu Boden fiel und seine Sinne ihn im Stiche ließen.
Ammon Trunneborg,
Kämmerer und Schreiber am Hofe zu
Erphesfurt, Hauptstadt Thuringias
Benutzeravatar
Ammon
r_novice

r_novice
Beiträge: 27
Registriert: Mi Okt 13, 2004 8:36 pm
Wohnort: Erphesfurt / Thuringia

Kapitel 9

Beitrag von Ammon »

9. Kapitel Der lange Marsch

Salziger Geschmack auf den Lippen holte Thoralf langsam wieder ins Bewustsein, um sich herum die kläglichen
Reste der Tidenwalker, dem Langboot auf dessen Planken sie den infernalischen Sturm überstanden hatten.
Er vermochte nun auch gewahr zu werden, daß er lag, völlig durchnässt, aber auf festem Boden.
Anstalten sich zu erheben oder auch nur zu bewegen entgolten ihm seine Glieder mit fürchterlichen Schmerzen.
Thoralf rollte sich auf die Seite, um zu sehen wo es ihn hin verschlagen hatte, da trat plötzlich ein Paar
ihm wohl bekannte Bundschuhe vor die Augen.
"gedankt sey Heimdall dhasz thu bist heil geblieben", sprach Eckewarth und half Thoralf auf die Beine.
"Eckewarth, min Oheym...w...uuo sindun uuir? ...di Boote, wieviele sind..." - "Manige sanken im Sturme, aber
kum nun Thoralf zum Lager. Mina Mannen suchen entlang der Kanten weiter nach versprengten Häufleyn.
Twee Tag schon sammeln sich alle dort an diesem Platze."

Bild
Originalquelle Bildmaterial: Kinofilm "King Arthur"

Viele Tage noch rastete der Zug, und immer noch kamen abgekämpfte Gestalten in dem Lager oberhalb der
steilen Küste an. Aus Wrackteilen wurden Karren gezimmert, auf dem die verbliebene Habe verstaut werden konnte.
Noch war dem Volke dieses neue Land fremd, und es argwöhnte sehr bei dem was Kundschafter nach ihren Streifzügen
durch das bergige Hinterland berichteten. Die Worte sprachen von grimmigen, gräulichen Gestalten mit
dunkelgrüner, faltiger,ledriger Haut.
Schäußliche Fratzen als Gesicht, bewaffnet mit Keulen und schartigen Schwertern zögen sie durchs Bergland.
Doch auch, trotz aller Entbehrungen, vernahm man schon wieder das Lachen von Kindern, die, durchs Lager
tollend, auf ihre Art die neue Welt erkundeten.

Um in das Innere dieser neuen Welt zu gelangen bedurfte es der Überquerung der Berge entlang der Küste.
Doch dort lag alleits die Gefahr von den häßlichen Kreaturen, denen nur die Berserker und Trolle
aus den Sagen der alten Welt gleich kämen, wie ein düsterer Schatten dar.
Wie also sollte nun das Volk sicher durch die Gebirgskette geführt werden?
Eckewarth ließ gut achthundert Untertanen des Zuges zum Schutze wappnen.
Einen Angriff konnte man so keineswegs wagen. Also hieß der Hofmeier seine Recken, jungen Burschen und streitbaren
Frauen im Falle des Kampfes dicht an dicht zu stehen.

Bild
Originalquelle Bildmaterial: ZDF Dokumentation "sturm über europa"

So begab sich nun der Zug auf den letzten beschwerlichen Marsch über Fels und Stein in Richtung Osten.
Durch tiefe Schluchten und enge, gewundene Pässe schlengelte sich das Völklein, flankiert von Eckewarths
Gefolgsleuten immer wachsam schauend nach den Bestien, die ihren Lieben nach dem Leben trachteten.
Stets hingen finstere Wolkenfetzen zwischen den Gipfeln, vernahm man nur das Heulen des Windes.
Weder Vogelsang erhellte das Gemüt noch zeigte sich Getier, welches sich sonst rechtens im Bergland umtrieb.
Das bangte so manches Kindlein und auch die Mütter, an deren Händen und Zipfeln ihrer Tuniken sie sich klammerten,
schauten ängstlich drein.
Und da, so plötzlich und gewaltig wie Blitze aus Mjölnir rotteten sich Herden dieser abscheulichen Gestalten
aus zerklüfteten Felsspalten und kaum wahrnehmbaren Höhleneingängen entlang der Rute in Front des Zuges.
Eckewarth schwang seinen Hammer in die Höhe: "Standhaft, dicht an dicht! Schild un' Speer nach voorn!"
Grunzend, schnaufend und stampfend forderte die abstoßende Meute die Thüringer zum Kampfe.
Doch dort stand die Reihe starr. Thoralf sah bei einigen Wankelmut aufkommen, und so zückte er Runnewehr, hob
seinen Schild vors Antlitz und fing an wie einst darauf rhytmisch mit dem Schwert zu schlagen.
Und wie damals in den Elbauen klang nun dort in der kargen Felslandschaft das dumpfe, sich langsam zum tosen
erhebende "Slachtung" wider dem neuen Feinde.
Da stürtze sich die dunkelgrüne, stinkende Horde klingen- und zähnestarrend, mit lautem Gebrüll gegen die
speerbewehrte erste Reihe der Thüringer und zahlten diesen Übermut bald schon jaulend mit ihrem schwarzen Blut.
Immer weiter brandeten die Massen gegen die dicht stehenden Krieger mit kühnem, unbeschreiblichen Hass, sodaß
einigen unter Thoralfs Mannen schon die Gedult schwand. Waren diese es doch eher gewöhnt tüchtig im Streite zu
kämpfen, als mit eingezogenem Kopfe das Wüten des Feindes zu ertragen. So wollte Thoralf seine Gefährten nicht
länger warten lassen , trat eine der Bestien von sich, hob Runnewehr und trennte ihr mit mörderischem Hieb das
Haupt vom Leibe. Dann stob er manchen Klafter vor die Reihe, riß die Arme nach oben und schrie so laut er konnte:
"SLACHTUNG FRIAND". Mit einem Male warf sich wohl die gesamte Schar auf dieses grünhäutige Geschmeiß
und pflügte mit furchtbarer Wucht durch die verbleibende Zahl der Gegner.

Donnerndes Siegesgeschrei begleitete die letzten der dämonischen Unholde auf der Flucht dorthin wo sie ihr
sonstiges, reudiges Dasein verbringen mochten.
"Noch nie sah ih een strida, geslogna mit solch Geschick undt Muthe wider een Pack von
Njevelheims stämma!", sprach Brandes als die Schar zurück zum Zuge kam.
"Een, twee daagmarsch uppa bergan, nis nu lang endi vill kummen innan thale, grun af gras end warmelig",
frohlockte ein Jüte zu Brandes, als er von seiner Vorhut zurückkehrte.
Das machte freilich rasch die Runde durchs ganze Volk und so setzte man sich frischen Mutes in
Bewegung, um dieses verheißungsvolle Tal baldigst zu erreichen.
Und in der Tat. Eines Morgens traten Hoyer Brandes und Thoralf, an der Spitze des Zuges wandernd, durch
die schroffen Felsen herunter auf eine grünbewachsene Hügelkette am Fuß der Berge. Den beiden bot sich ein
Anblick der seines Gleichen suchte. Eine unendlich scheinende Ebene, die von seichten Hügeln und Waldstücken
durchwirkt war, lag im güldenen Schein der steigenden Sonne. Thoralf blinzelte in die warmen, kräftigen
Strahlen und mußte gleich darauf einige Male herzhaft niesen, was ihm Brandes mit schallendem Gelächter applaudierte.
Als die ersten Sippen mit Kind und Karren sahen was nun vor ihnen lag, begannen einige voller Freude
Purzelbäume schlagend und tanzend den Hügel hinab zu jagen. Das hatte keiner mehr vermutet. Sollten sie
tatsächlich ihr Arcadien gefunden haben, nach all der Müh und Last?

Bild
Originalquelle Bildmaterial: ZDF Dokumentation "sturm über europa"

Einen guten Mond lang noch streifte das Volk über saftige Weiden vorbei an dichten Tannenwäldern, riesigen Seen
und einem schier nicht enden wollenden Moor.
Noch einen Tag später erreichte die Spitze des Trecks den Rand eines Waldes, der sich über den gesamten östlichen
Horizont zu erstrecken schien. Eichen, Buchen, Tannen, Eschen, Ahorn...schlicht alles was des Zimmerers Herz
begehrte war darin zu finden. Dem Wald entsprang ein Flüsslein und schlang sich durch das Weideland.
Als Thoralf mit seinem Oheim und Ammon am Ufer des Flußes stand wurde beiden klar wie sehr dies hier ihrer geliebten
Heimat ähnelte, die sie nun vor über sechs Jahren so überstürzt verlassen hatten. Mit Tränen in den Augen
wandte sich Ammon seinen Herren zu: "Seht, hiro ists water seycht un' trüb...ganz so als seys di Erpf"
Darauf nahm sich Thoralf Ammon bei der Schulter und nickte ihm zu. Dann wandte er sich um und blickte auf den
Siedlerstrom, der nach und nach die Ebene füllte.
"Hiro iszt guth seyn, hir laszt uns Hütten bauen, an der Erphesfurt"


So geschah's im Jahre 376 nach Abanor, 536 der Christenheit, daß die letzten freien Thüringer ein Reich in
Tamar gründeten. Zur gleichen Zeit stand eine Mutter an der Westküste Jütlands, ihren kleinen Sohn Uriens im Arm
und blickte lächelnd auf die See hinaus.
Ammon Trunneborg,
Kämmerer und Schreiber am Hofe zu
Erphesfurt, Hauptstadt Thuringias
Benutzeravatar
Ammon
r_novice

r_novice
Beiträge: 27
Registriert: Mi Okt 13, 2004 8:36 pm
Wohnort: Erphesfurt / Thuringia

was ist Sage, was Historie

Beitrag von Ammon »

[Outtime Kommentar des Autors zur vorrangegangnen Saga]


Wie man sicherlich schon früh erkennen konnte, spielt sich diese Sage zum Ende der
Völkerwanderungszeit ab und spinnt sich im Hauptteil um ein historisch belegbares
Hauptereignis nämlich der Unterwerfung des Thüringischen Reiches durch die Franken
um 531 mit den Söhnen des Merowingerkönigs Chlodwig, Theuderich und Chlotar I.
Das zweite Ereignis, welches in der Sage gestreift wird, ist die Auswanderung der Sachsen,
Angeln und Jüten nach Britanien im Zeitraum 5. - 6. Jhd.

Historisch belegte Figuren der Sage sind zum einen der letzte thüringische König
Herminafrid (oder auch Hermenefred,Irminfried), dessen Gemahlin, Amalaberga, die Tochter
einer Schwester Theoderichs des Großen (Amalafrida) und Thrasamund dem Vandalenkönig war
und natürlich Theoderich selbst. Der schillernste aller Gotenkönige. Seine Regentschaft über das
Ostgotenreich in Italien bis zu seinem Tode 526 wurde selbst von der römischen Bevölkerung
als blühendes Zeitalter empfunden.
In alten Sagen der frühdeutschen Literatur, tritt Theoderich als Dittrich von Bern auf. Der Ort Bern
bezieht sich hierbei auf die Reichresidenz Theoderichs. Mit Bern ist also Ravenna gemeint.

eine Karte Mitteleuropas zum Zeitpunkt des Todes von Theoderich dem Großen

Bild
Kartenquelle www.sachsengeschichte.de

Der Rest der Geschichte ist blühende Fantasie, genährt von meinem brennenden Interesse
an dieser Epoche sowie an altem Sagengut wie z.B. dem Nibelungen- und dem Hildebrantslied.
Der beschriebene kleine Lehnshof an der Erpf soll eigentlich nichts weiter als eine frühe Siedlung
an der Stelle umschreiben, an der das heutige Erfurt steht.
Das Volk der Thüringer ist, in der Definition der Völkerwanderung gesehen, nie ausgewandert.
Auch nicht, als im 4. Jhd. plötzlich die Hunnen vor der Türe standen.
Gerade mit diesem Fakt hat mich der "Hafer" gestochen und im Rahmen des Spielbeginns auf
Tamar ersponn ich diese hoffentlich spannende Geschichte.

Micha
Ammon Trunneborg,
Kämmerer und Schreiber am Hofe zu
Erphesfurt, Hauptstadt Thuringias
Antworten

Zurück zu „Chroniken / Der Bote von Tamar / Chronicles / The Messenger of Tamar“