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Die Akademie von Barkhanat

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karam
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Die Akademie von Barkhanat

Beitrag von karam »

Die Geschichte der Akademie zu Barkhanat

Gegründet im Jahre 855 der Ära Quryana, entsprang der Gedanke dem Wunsch des damaligen Herrschers von Barkhanat, dem edlen Großfürsten Hurayma, der Wissenschaft und dem Forschungsdrang der Gelehrten im Reiche eine bessere Wohnstatt und ein besseres Betätigungsfeld zu gewähren, als dies bislang der Fall gewesen war.
So stiftete er ein großes Grundstück gegen zehn Morgen, welches - mit schönen Gebäuden nach den Plänen der besten Hofarchitekten bebaut – schon bald zum Anziehungspunkt, zum Magnetpol der Forscher und Wahrheitssucher, der Astronomen und Heilkundigen, der Philosophen, Denker und Erfinder wurde.

Der Rat der Weisen der Akademie

Schon im Jahre 861 der Ära Quryana taten sich daher die gewählten Oberhäupter der in der Akademie versammelten Gelehrten zusammen und wählten einen Rat der Weisen, in welchem für je eine der großen, anerkannten Disziplinen Barkhanats der jeweils bedeutendste Gelehrte als „Weiser“ seinen Platz fand. Dem Edlen Cadugar, Sproß des letzten Großfürsten, Sangarta, Brudersohn des Hurayma, fiel trotz seines noch geringen Alters von 30 Jahren der Platz des Weisen der Astronomie und Naturmagie zu, da er sich durch viele veröffentlichte Werke bereits einen Namen in der Fachwelt Barkhanats verschafft hatte.

Die Tätigkeiten der Akademie

Die ersten vier Gründerjahre der Akademie wurden durch Sammler- und Übersetzertätigkeit ausgefüllt; auch die Datierungsprobleme der Historiker konnten durch eine Kalenderkommission gelöst werden (dazu weiter an anderer Stelle).

Ein besonderes Augenmerk war in den Folgejahren 859-862 den Experimenten und Großversuchen gewidmet, etwa das Projekt der Landvermessung der Zentralprovinzen von Barkhanat, der magnetischen Polausmessung in den Bergen um Laristar (nahe der Hauptstadt von Barkhanat, Maltarnu), und dem Bau einer Sternwarte mit Mauerquadranten, Globen, Sicht-Peil-Geräten und Schattenmaßgerätschaften, sowie der mathematisch-astronomischen Abteilung ebenjener Sternwarte.

Bemerkenswerter noch war der recht erfolgreiche Versuch des Rates der Weisen der Akademie, das Wissen auch im Volk zu verbreiten; dazu überzeugte man die Provinzherrscher, öffentliche Schulen einzurichten, die als Erweiterung zum bestehenden – eher unzureichenden – System den Förderungswilligen und Fähigen auf breiterer Ebene Zugang zum Wissen gewähren sollte. Höhepunkt und bedeutendster Erfolg war die Einrichtung von Stipendien, gekoppelt mit bezahlten Forschungsreisen in entfernte Regionen, unternommen von wagemutigen Entdeckern und – zugegeben - auch rechten Abenteurern, Glücksrittern und dergleichen leichtfertigen Schülern der Gelehrten, die eben gern zu disen nicht ungefährlichen Fahren aufbrechen wollten.

Zeit der Wirren

Während des Jahres 865 verstarb der Herrscher Hurayma, und sein Brudersohn Sangarta folgte ihm der Sitte nach auf den Thron. Auch dieser Großfürst hatte eine enorme wissenschaftliche Begabung und Neigung zur Förderung der Gelehrten, allein, das Schicksal und der Himmel waren ihm nicht gewogen. Zwei Barbareneinfälle und eine große Hungersnot zwangen zu gewaltigen Sparmaßnahmen, sodaß die in der Akademie versammelten Wissenschaftler teils das Land verließen, teils auf kleinere private Forschungseinrichtungen auswichen. Von den ca. 150 Gelehrten des Jahres 865 verblieben daher nur noch ca. 80 auf dem Gelände der Akademie selbst, darunter auch der Rat der Weisen.
Doch wie so oft hatte auch diese Auswanderung ihr Gutes, denn diese in ihre Ursprungsländer zurückgekehrten Forscher bewirkten am Hofe der Provinzfürsten einen Aufschwung der Wissenschaften, und so konnte die Akademie von Barkhanat nach acht harten Jahren, 869 nach Quryana, wieder auf mehr als 170 Forscher blicken, die sich zum Wohle von Barkhanat einsetzten.

Der geistige Umschwung der neuen Ära

Im Jahre 869 nach Quryana verstarb Sangarta, ohne einen Nachkommen designiert oder per Testament eingesetzt zu haben. Die Staatsverfassung sah für diesen Fall vor, einen Regentschaftsrat der vier königlichen Sippenoberhäupter zu bilden und ein Jahr (gemeint: ein Mondjahr) lang den Staat zu leiten, während dessen sie alle in Frage kommenden Thronprätendenten auf ihre moralische und staatstragende Funktion hin überprüften. Auch hatte der Regentschaftsrat während seiner Amtszeit das Recht, sich in Staatsdingen auch über die Entscheidungen von Mitgliedern der Königssippen hinwegzusetzen, ja ihnen Befehle zu erteilen – so, wie es ein regulärer Herrscher ansonsten auch gehalten hätte.
Außerdem bewirkte die Unterbrechung der bis dato gültigen Nachfolgelinie zwangsweise – gemäß der Landessitte – eine Umstellung der Äradatierung, und so wurde das laufende Jahr 869 nach Quryana zum Jahr 1 der Ära Sangarta (denn man datierte immer nach dem letzten bedeutenden Herrscher, nicht nach dem neuen, da das Verdiente, Alte in diesem Volke immer mehr Ansehen genoss.
Doch diese neue Ära war mehr als nur ein Zeitensprung: der Regentschaftsrat beschloss, die Isolation des Reiches Barkhanat zu durchbrechen und vermehrt mit den übrigen Völkern Tamars in Kontakt zu treten und zugleich den Gedanken der Akademie den „außen lebenden Völkern“ – gemeint dene von Zentraltamar – praktisch vorzuleben und so als nachzueiferndes Beispiel der Kultur Barkhanats zu dienen. Bislang war das nur durch eine recht unbedeutende Stadt geschehen, mit Namen Nuraniyya, die am Rande der größeren Reiche Tamars als Außenposten gelegen war.

Zu diesem Zweck entsandte der Regentschaftsrat den Edlen Cadugar, einen der Weisen der Akademie von Barkhanat, nach Nuraniyya, während sein Bruder Zaraqgar als Heerführer und möglicher neuer Großherrscher Barkhanats im Zentrallande verbleiben musste.

So bleibt derzeit, im Jahre 1 der Ära Sangarta, abzuwarten , wie dieses hoch angelegte Projekt verlaufen wird…
Cadugar, Herrscher von Nuraniyya
Weiser der Akademie von Barkhanat
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karam
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Beitrag von karam »

Ein Schreibfehler

Die Abenddämmerung war bereits hereingebrochen, und im großen Saal der Schriften hatten die Saaldiener die Öllampen in ihren Bronzehalterungen schon entzündet.
Der Weise betrat den Raum, hoch aus sauberem Bruchstein gefügt und mit sauberem weißen Verputz gedeckt, worauf die Diener herbeieilten und seine Anordnungen hörten: "Bringt das Tagesregister und die Chronik der Akademie, sowie die Annalen der neuen Provinzen."

Nach kurzen Augenblicken lagen die gewünschten Folianten und Rollen auf dem Tisch des Weisen, und er löste die Lederbänder der Folianten; das knarzende Geräusch der ledergebundenen Holzdeckel und der unverwechselbare Geruch von frischem Kalbspergament erfreute ihn genauso wie der seltsam-dumpfe Schwall, der ihm beim Öffnen der Eisen-Gallus-Tinte entgegenschwang.
Der Duft der Forscher, das Parfüm der Gelehrsamkeit, so nannte man diese Gerüche früher, ging es ihm durch den Kopf. Doch heute waren die jungen Adligen eher auf feine, mit Amber und Moschus parfümierte Seidengewänder aus, um mit golddurchwirkten Gewändern auf die Edeldamen Eindruck zu machen. Kaum einer davon konnte einen erträglichen Satz formulieren, scheiterte an den komplizierten Satzkonstruktionen der alten Texte - von Wissensdurst und Forscherdrang keine Spur.
Erst heute morgen hatte er wieder einmal auf dem Gelände der Sternwarte einen kleinen Stutzer aus nachgeborenem Adelsgeschlecht zurückweisen müssen, der meinte, seine Geburt befähige ihn zum Tragen der Gelehrtenrobe.
"Was meint Ihr, wozu dieser Mauerquadrant dient? Als Spielzeug zum Messen Eures unwichtigen Körperschattens?"
"Edler Cadugar, ich..."
"Schweigt still, noch habt Ihr nicht das Wort! Nur weil Ihr kein geeignetes Ziel zur Schattenmessung fandet, habt Ihr den Meßbalken mit den Absehen verzogen. Seht, die Nabe ist sogar von mir hier aus deutlich zu sehen, so sehr habt Ihr die Achse herausgebogen!"
"Aber das ist doch schnell repariert, so viele Diener stehen Tag für Tag hier tatenlos herum..."
"So wie Ihr, meint Ihr wohl! Diese Diener sollen die Instrumente bedienen und für richtige Einweisung solcher wissenschaftlichen Frischlinge wie Ihr einer seid, dienen! Ihr habt die Quadrantendiener fortgeschickt, um Euch wichtig zu machen, also werdet Ihr für die Schäden aufkommen!"
"Mit allem Respekt, das wird mein Vater nicht hinnehmen!"
"Euer Vater, junger Mann, kennt mich schon, seit ich ihm in der Zöglingsschule beim Winkelzeichnen aushalf, weil er sonst von dem vorstehenden Weisen seine Prügel mit dem Lineal bezogen hätte! Kommt mir nicht altklug, junger Mann! Und jetzt schert euch hinweg!"

Nun, in der Halle der Schriften, untersuchte Cadugar die neuen Einträge zum Werdegang der Akademie und entdeckte einen Datierungsfehler. Er befahl einem der bereitstehenden Boten, den schriftführenden Nachwuchsarchivar, Aramwar, herzubringen.
Während der Bote loseilte, wunderte sich der Weise über den Fehler: "Seltsam, warum hat Aramwar sich hier verrechnet? Das ist sonst nicht seine Art, so gewissenhaft wie er sonst vorgeht..." Da erschienen bereits Bote und Archivar.
"Lieber Aramwar", erhob sich Cadugar von seinem schweren Schnitzhochstuhl, "seid willkommen."
"Edler Weiser, Euch gebührt mein Gruß."
"Wie geht es Euren werten Eltern?"
"Dem Himmel sei’s gedankt, beide sind wohlauf."
"Welche Nachricht habt Ihr?", fuhr der Gelehrte dem Jüngling im rituellen Grußzeremoniell fort.
"Nur Gutes", erwiderte dieser, "und von Eurer Seite?"
"Auch nur Gutes und Vortreffliches."
Cadugar sprach: "Was gebühret dem Weisheitsucher?"
"Seine Fehler zu erkennen und Wissen zu nutzen."
Zufrieden lächelte der Gelehrte ob dieser formvollendeten Antwort.

Beide Männer lockerten ihre steife Haltung und setzten sich freundschaftlich nebeneinander.
"Edler Aramwar", hob Cadugar an, "bitte habt die Güte und lest diese Zeilen Eures letzten Chronik-Eintrages."
"Zur Akademie-Geschichte?"
"Ja."
Der junge Mann beugte sich über die Textsäule und wendete die Schriftrolle leicht in seiner Hand, sodaß sich die feste Kruste der eisenhaltigen Tintenschrift im Licht der Öllampen glitzernd spiegelte.
"Fällt Euch nichts auf?" Cadugar war nicht unwillig, sondern gespannt, nicht ob, sondern wie schnell der junge Archivar den Fehler finden würde.
"...nach acht Jahren...", murmelte da schon der junge Schreiber.
"Genau. Es muß lauten: nach vier Jahren. Wie konnte Euch dieser Rechenfehler unterlaufen, wo er doch so deutlich ins Auge sticht?"

Aramwar blickte auf und schien nicht beschämt, sondern etwas belustigt:
"Edler Cadugar, das liegt an meinem Dialekt! Diese Chronik wurde in der Gemeinsprache von Tamar für Leser der tamarschen Sprache erstellt, doch meine Muttersprache ist ja das Latarku, so wie Eure das Sangarku - die Hochsprache Barkhanats - ist."
"Ja nun, wir alle müssen doch korrekt viele Sprachen übersetzen, was hat das mit dem Rechenfehler zu tun?"
"Es ist - verzeiht mir meine Dreistigkeit - kein Rechenfehler: im Latarku heißt ‚vier’ tarba, im Sangarku bedeutet tarba aber ‚acht’. So habe ich aus Gewohnheit von meinem Dialekt in die Hochsprache von Barkhanat hineingedacht und übersetzt, als ich ‚acht Jahre’ geschrieben hatte."

Da fiel dem Weisen Cadugar ein Stein vom Herzen, und unter gemeinsamem Schmunzeln und Verwunderung der umstehenden Diener nahm Cadugar die Feder, tauchte sie in die rote Auszeichnungstinte und reichte sie an Aramwar weiter, der in ruhiger und schöner Form die "acht Jahre" mit Punkten unterlinierte und am Rand die Verbesserung anfügte.
Cadugar, Herrscher von Nuraniyya
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karam
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Beitrag von karam »

Die Kalendersysteme von Barkhanat

Seit jeher wurde in Barkhanat nach mehreren Kalendersystemen gerechnet; die beiden wichtigsten waren der "Kalender der Nächte", ein reiner Mondkalender zu 354 Tagen plus Schalttagen, sowie der "Kalender der lichten Tage", ein Sonnenkalender zu 365 Tagen plus Schalttagen.

Daneben verwendete man auch Zeitrechnungssysteme, die innerhalb des Tages nach geraden und ungeraden Stunden die Zeitspannen einteilten, genannt die "Schattenleitern", weil bei den Sonnenuhren der Schatten eines Stabes scheinbar auf den Linien wie auf einer Leiter auf- und abstieg, und einem System der Monatstage, wobei die Einteilungen des Mondmonates aus Sequenzen je dreier Tage und Nächte bestanden, die des Sonnenmonats aus Sequenzen von je 7 (Woche) oder 10 (Drittel), alle mit ihren eigenen Namen, Symbolen und Deutungen der Sternkundigen, Wahrsager, Weißmagier, Astrologen und Traumdeuter.

Vervollkommnet wurde dieses Ganze durch drei voneinander unterschiedlichen Datierungssystemen:
eines nach der laufenden Ära (unregelmäßig lang und nach plötzlichen Geschehnissen eingesetzt, benannt nach dem letzten herrschenden Fürsten vor der Ärawende),
eines nach einem alten Fixdatum (dem "Salmaqul", das unveränderbar bestand) und schließlich
eines nach der Tradition der Altvorderen (unterteilt nach den lokalen Datierungen der Stammesfürsten von Barkhanat).

Hier nun machten sich die Weisen der Akademie von Barkhanat zu schaffen und betrachteten die Sache von zwei Blickpunkten aus: was würde geschehen, wenn man den Mondkalender abschaffen würde und nur der Sonnenkalender bliebe? Könnte man auf die Ära-Bestimmung verzichten?
Das Volk würde dies nie akzeptieren, da gerade die Ära als moralisch-geistige Einteilung dem Leben Sinn gab, abgesehen davon, daß etliche Riten nur mit den Mondzyklen zu errechnen waren. Andererseits war der Sonnenkalender unabdingbar für die Landwirtschaft und die Korrektur der Jahreszeitenveränderungen.
Schließlich blieb noch der Punkt, daß eine Umrechnung auf die Abanor-Datierung, der verbreiteten Zeitrechnung in Tamar, über den Mondkalender nur mit Zusatztabellen, über den Sonnenkalender mit Ära-Bestimmung möglich war.

Hier nun machte sich der Weise Cadugar als Ratsmitglied für Astronomie und Naturmagie bei den Gelehrten bekannt, indem er die wichtigsten Ären auflistete und mit den übrigen Zeitrechnungen Barkhanats einerseits und der Abanor-Zeit in Gesamt-Tamar korrellierte. Dies geschah seinerzeit, um überhaupt eine gemeinsame Linie in die alten Handschriften der Altvorderen und die Chroniken der Provinzen bringen zu können.

Ansatzpunkt war das Fixdatum des Altvorderen-(Sonnen)Kalenders namens "Salmaqul" (dieser entspricht ca. dem Jahr 982 vor Abanor, wenn man kein Jahr 0 nach Abanor einberechnet) und die Ära-Jahre der Groß-Könige Barkhanats (in Mondjahren).
Es gilt zu beachten, daß 100 Mondjahre etwa 97 Sonnenjahren entsprechen.

Hier eine kurze, aber nützliche Hilfsliste, welche die historisch faßbaren Ären Barkhanats auflistet und die - zum ersten Mal im dritten Jahr des Bestehens des Weisenrates von dem Astronomie-Plenum der Akademie als maßgebend herausgegeben - noch zweimal verbessert wurde:

Ära (r)____________Salmaqul (s)__________Abanor (a)

Hartanum_______10 (v.s) - 239 (249)_______992 (v.a) - 743 (v.a)
(257 MJ)

Darugal__________239 - 676 (437)_________743 (v.a) - 306 (v.a.)
(448 MJ)

Lumaschtar_______ 676 - 911 (235)________306 (v.a) - 71 (v.a)
(243 MJ)

Munayra__________911 - 1127 (216)________71 (v.a.) - 145 (n.a.)
(222 MJ)

Quryana__________1127 - 1354 (227)_______145 - 372
(234 MJ)

Sangarta__________1354 - 1360_____________372 - 378
(derzeit 6 MJ)

Demnach wird heute jedes amtliche Dokument der Völker von Barkhanat mit einer Dreifach-Datierung versehen:
laufende Ära (Mondjahr),
Salmaqul-Datum (Sonnenjahr) und
Abanon-Zeitrechnung.

Das Jahr 1 nach Salmaqul fiel dementsprechend auf
Hartanum 10 bzw. das Jahr 982 vor Abanor
(im zehnten Jahr nach der Krönung des ersten Großherrschers von Barkhanat wurde die Salmaqul-Rechnung eingeführt, daher ist in dessen Ära der Fix-Datumsbeginn entsprechend 10 Hartanum).

Das Jahr 1 nach Abanor war demzufolge
Munayra 73 und Salmaqul 982.

Das heutige Datum ist also Sangarta 6 , Salmaqul 1360 und 378 nach Abanor.

Wie deutlich zu erkennen, umfaßt eine Ära mehr als die Lebensspanne eines Menschen, und tatsächlich wurde und wird eine neue Ära nur durch Konstellation dreier gleichzeitiger Faktoren ausgelöst:

1. Der letzte Großherrscher hat weder einen leiblichen Erben (Sohn oder Tochter), noch einen Bruder, noch einen Brudersohn hinterlassen; in diesem Falle wird ein Regentschaftsrat für die Dauer eines Mondjahres eingesetzt, der aus den königlichen Linien einen neuen Großkönig von Barkhanat zu bestimmen hat.

2. Es sind seit Beginn der laufenden Ära mehr als 200 Mondjahre vergangen (nämlich: mehr als drei übliche menschliche Generationen; drei Generationen seiner Vorfahren namentlich zu kennen und zu belegen ist in Barkhanat die Mindestvoraussetzung zur amtlichen Anerkennung als ehrlich Geborener des niederen Adels).

3. Der letzte Großherrscher muß im Volk in guter Erinnerung geblieben sein. (Dies darum, weil mit dem Namen des letzten Herrschers der vorangegangenen Ära die neue bezeichnet wird, zum moralischen Ansporn der Nachkommenden; bei einem Tyrannen wäre eine solche Benennungsweise pervers und unakzeptabel).
Cadugar, Herrscher von Nuraniyya
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karam
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Beitrag von karam »

Eine seltsame Erfindung

Geschehen in der Ära Sangarta 7, Salmaqul 1361, entsprechend 379 nach Abanor

Nun, da der Winter im wahrsten Sinne vor der Tür stand, war mehr Zeit als sonst zu Beschäftigungen, denen zu frönen Gelehrten meist untersagt war. Die Weisen der Akademie ermahnten die Forscher, ihre wertvolle Zeit nicht zu vergeuden, zumal etliche von ihnen Stipendien erhielten und so dem Regentschaftsrat im fernen Barkhanat auch Rechenschaft zu geben hatten.
Da aber die praktische Forschung auch einen gewissen Spieltrieb erforderte, rekrutierten sich die technischen Erfinder meist unter den jüngeren Männern nicht-adliger Herkunft. Diese sahen nämlich Körperarbeit nicht als unter ihrem Stand stehend an und waren es gewohnt, auch in schwierigen Lebenslagen praktische Überlebenslösungen zu finden.

Die gesetzteren Gelehrten der Schriftführer, Archivare oder Übersetzer hatten nun aber weniger zu tun und schlossen sich daher den Technikern im großen Bausaal an, mit so absonderlichen und erstaunlichen Ergebnissen, daß die Vorsteher der Stadtgilden durch Verwandte davon hörten, Interesse zeigten und sich schließlich an einem publikumsoffenen Tag der Akademie an den Weisen Cadugar wandten.
So sprach an jenem Abend der Vorsteher der Stadtgilden, nachdem die unvermeidlichen Begrüßungsriten verklungen waren:

"Edler Weiser Cadugar, wir hörten von einem unserer Verwandten, dem das Privileg zuteil wurde, an diesem Hort des Wissens zu forschen, daß Ihr einige erstaunliche und sehr nützliche Maschinen erfunden hättet."

"ICH ganz sicher nicht, werter Naraqwar, aber Euer Brudersohn Aramwar meinte sicherlich: einer der Techniker?"

"Naja, ganz genau weiß ich es gerade nicht mehr, aber auf jeden Fall war von Maschinen die Rede, die ganz viele Zahnräder, Kolben, Achsen und dergleichen haben! Einige sollen sogar Dampf speien!"

Der Weise unterdrückte ein Lächeln, nur die Mundwinkel zuckten verdächtig.

"Außerdem", fuhr Naraqwar fort, "sollen einige der Maschinen gewaltige Lasten emporheben in die Lüfte, wie Olifanten groß, und wieder andere sollen sich selbst von der Oberfläche der ehrwürdigen Erde zum erhabenen Himmel empor stemmen..."

Cadugar erhob leicht seine Hand, erbat sich solchermaßen Ruhe, und erwiderte:
"Wisset, edle Herren der Stadtgilden, daß ich das Gebiet des praktischen Forschens dem zuständigen Weisen, den edlen Ralamya, überlasse; so schlage ich vor, doch anzufragen, ob wir alle uns nicht diese erstaunlichen Wunderdinge betrachten und vielleicht auch vorführen lassen können!"

Sofort näherte sich einer der im Saal bereitstehenden Boten, der gleich vom Weisen Cadugar zu Ralamya, dem Leiter der technischen Bauhütten, eilte, während die Gildenoberhäupter Nuraniyyas den Weisen Cadugar für sein Entgegenkommen mit höchsten Dankesworten bedachten.
Der zurückkehrende Bote entrichtete seinen Gruß und die Botschaft, daß Ralamya und die Bauhütte bereit seien. Voller Ungeduld drängten da alle vorwärts, gingen mit stetigem Schritt den großen Gang hinunter, bis ihnen das hohe Eingangsportal des Baumeistersaales mit weit geöffneten Türflügeln entgegenleuchtete.

Schon zu Beginn des Gangstückes schallte ihnen lautes Hämmern und Schleifen, Sägen und Reißen, auch ganz ungewohnte Laute wie von Luftzischen entgegen, sodaß bei manch einem sich Neugier und Beklemmung vor dem Unbekannten die Waage hielten.

Kaum hatten die Besucher den Torbogen durchschritten, drängten sie fast wieder zurück: ein riesiges Monstrum, ein verkleidetes Gerüst aus stabilen Eichenbalken, nahm den Platz vor dem Tor, links in der Halle, ein; in seinem Inneren drehte und surrte es, und durch mehrere "Fenster" in der Seitfront erkannten die Betrachter ein mannslanges Zahnrad und etliche kleinere Schwungräder aus metallbeschlagenem Holz, aufgesetzt auf beindicken Holzachsen.
An Ketten befestigte Holzflächen mit Eisenverstärkung schwankten einige Fuß über dem Saalgrund, Gewichte drückten nach unten und zerrten Eisenketten mittlerer Größe hinab, die wiederum andere Hebel und Räder im Obergeschoss der Maschine antrieben, kurz: etwas Riesengroßes, Bewegliches. Keiner vermochte sich Sinn und Zweck dieses unförmigen Etwas vorzustellen. Da niemand von den Technikern in der Nähe des Ungeheuers stand, stritten sie rasch weiter.

In der Mitte des Saales erhob sich ein vergleichsweise zarter Bau, ein Gitter aus Bronze und Gußeisen, darin verschiedene Reifen, Metallnetze, Achsen, Naben, Ösen, Scharniere. Alles bewegte sich, allerdings sehr langsam. Zwei Rohre reichten, im Obergeschoß angebracht, aus dem Hauptgerüst heraus, und zwei Astronomen standen mit dem Meister der Sterndeuter auf der oberen Bodenplattform und peilten anscheinend genau durch eine dieser Röhren etwas an.

Neugierig traten die Besucher näher und erkannten mehr Einzelheiten.

Da das Gestell bis kurz unter das Dach reichte und schon in die gläserne Dachkuppel hineinragte, hatten die Baumeister kurzerhand das Dach der Kuppel geöffnet und so das Ganze zu einem Observatorium umfunktioniert. Viele Leitern führten um und durch diesen Gestellturm, den die Besucher schließlich staunend hinter sich ließen.

Doch erst die dritte und letzte Maschine, ganz rechts an die Außenwand des Saales gebaut, schlug die Gildenvorsteher in ihren Bann: eine gewaltige Konstruktion, mit einer erhöhten Mittelachse, zwei seitlichen Schwenkarmen und vielen armdicken Spannseilen, die über eine gruppierte Unzahl nebeneinandergehängter Holzrollen liefen, ähnlich wie die Takelagenblöcke eines Schiffes. Daran waren mit jeweils vier schweren Doppelketten Tragflächen angebracht, sodaß das Gerät starke Ähnlichkeit mit einer überdimensionalen Waage aufwies.
Auf einer erhöhten Plattform waren mehrere mannshohe Hebel angebracht, und mehrere Ingenieure und Forscher waren in angeregte Gespräche vertieft.

Am Fuße der Maschine erwartete sie bereits Ralamya, der mit seiner Stentorstimme Cadugar zurief: "Herzlich willkommen ist hier der Weise, der Buch und Feder genauso hoch einschätzt wie Säge, Hobel und Schlagwerkzeug! Stolz erfüllt uns, die Meister des Großen Bausaales, den hier versammelten und erlauchten Oberhäuptern der Stadtgilden unsere neueste Erfindung vorführen zu dürfen."

Rascher als man es dem schon recht beleibten Mann zugetraut hätte, wandte sich Ralamya zu den Forschern um und rief ihnen etwas im Provinzdialekt von Gulnastam zu, einer Berggegend im Süden von Barkhanat, denn er und die meisten praktischen Forscher stammten von dort her.
Während darauf die Hebel hin und her geschwungen wurden, erklärte Ralamya weiter:

"Wisset, dieser Berg, gefertigt von Holz und Metall, macht sich die Eigenart von Gewicht und Gegengewicht zunutze; die großen Seilzüge dienen zur Umsetzung der gewaltigen Kräfte, doch der eigentlich bedeutsame Schritt unserer Ingenieure war, durch Zwischenschaltung etlicher Zahnräder usw. zwischen beiden - sagen wir - Waagschalen hin- und herschalten zu können. Seht selbst!"

Vor aller Augen bewegte sich eine der Plattformen langsam gen Decke, während die andere an ihrem Ort zwischen Oben und Unten verharrte.

"Darin seht ihr den Unterschied zwischen einer normalen Hebelkonstruktion und dieser Technik", rief Ralamya in das rappelnde Getöse hinein, "denn beide Schalen können unabhängig voneinander hochgehoben werden.
Der Witz ist, daß im Inneren des Apparates eine Art Seilzug mit Gegengewichten hängt, der sich bei JEDER Benutzung aufzieht - egal, ob man etwas hebt oder senkt. Nur müssen die beiden Schalen abwechselnd benutzt werden: immer wenn eine genutzt wurde, ist der Umstellhebel zu betätigen, und schon hat sich die Kraft auf der Gegenseite wieder eingestellt."

"Wunderbar", rief jemand aus der Menge der Gildenoberhäupter, und alle raunten laut ihre Zustimmung. Naraqwar fragte nachdenklich:

"Edler Ralamya, welches Gewicht kann denn eine Schale heben? Eine Wagenladung Korn oder auch ein bis zwei große Fässer? Oder...eine große Vorratstruhe?"

"Naja, etwa 40 Kornsäcke, damit haben wir zumindest sichere Erfahrung durch Ausprobieren. Mag sein, daß auch größere Gewichte getragen werden, aber dafür könnte ich nicht mehr bürgen."

Entschlossen rieb sich Naraqwar das Kinn; 40 Kornsäcke waren weit mehr als eine normale Wagenladung, eher schon eineinhalb. Zwei schwere Fässer benötigten zehn Mann am Lagerseilzug, und eine Vorratskiste mit Eisenbeschlag entsprach im Gewicht ca. 4-5 Säcken - mehr als das Doppelte der bisherigen Hebeleistung bei herkömmlichen Aufzügen und Baukränen.

Ein Blick mit den Obleuten gewechselt, wandte er sich Cadugar zu:

"Edler Weiser, schon vor unserem Besuch ist sich die Gilde der Fernhändler einig gewesen, eine jede Maschinen zu erwerben, die Gewichte dieser Art und Größenordnung befördern kann; bei solch enormer Leistung hätten aber auch die übrigen Handwerksgilden Interesse. Was haltet Ihr von einem Vertrag zwischen der Akademie und den Gllden?"

Der Weise sann ein wenig nach, um schließlich zu meinen:
"Das sollten wir im Schreibersaal der Akademie besprechen. Am besten begleitet uns Ralamya mit den Modellen und Bauplänen."

"Sicherlich", dröhnte Ralamya fröhlich, auf die Hebemaschine weisend, "denn dies ist nur eine Ausführung, bauen können wir auf Auftrag auch noch andere Maschinen."

So kehrten alle zurück in den Schriftsaal, die Baumeister fachsimpelnd, die Gildenvorsteher tauschten sich über weitere Sonderausführungen mit Ralamya aus, und Cadugar zog seinen Meisterschüler und Archivar, den jungen Aramwar, an seine Seite, ihm zuflüsternd:

"Noch ein paar gezielte Gerüchte mehr, und wir machen die Händler der Nachbarreiche eifersüchtig!"

"Nicht ganz, edler Weiser - sie HABEN bereits angefragt, weil die Nachricht von unseren Fernhändlern her bereits zu ihnen durchgesickert ist, aber ich wollte zunächst den Gilden unserer Stadt den Vorrang lassen."

"Sehr gut! Nun, dann schauen wir, welche Bedingungen in den Vertrag hinein müssen, damit die Akademie auch einen Nutzen davon hat."

Nach drei Stunden zäher Verhandlungen, in denen Schmeicheleien und Lobhudeleien mit wüsten Zornesausbrüchen und Entrüstungsstürmen wechselten, sprach endlich der Weise Cadugar das Schlußwort und besiegelte mit Naraqwar als Oberhaupt der Stadtgilden einen folgenschweren Vertrag, der sowohl gewinnbringend als auch der Wissenschaft förderlich war:

"Ihr, edler Naraqwar, erhaltet zum Vorzugspreis sämtliches Erstkaufsrecht auf neue Erfindungen, sobald sie funktionsfähig und geprüft sind; wir als Akademie erhalten im Gegenzug für jeden an der Forschung aktiven Ingenieur und jeden in den Schriften suchenden Forscher ein monatliches Stipendium, namentlich für Essen, Kleidung, Reinigung und Schreibmaterial."

"So soll es sein", bestätigte Naraqwar unter Beifall aller Umstehenden. Herbei trat der Siegelverwahrende Archivar, öffnete den großen, verzierten Amtskasten, und legte das Große Petschaft der Akademie heraus, daneben die Stange mit zinnoberrotem Siegelwachs und den Schmelztiegel sowie die Holzhülse des Siegels, die Bulle.

Während Aramwar, der persönliche Archivar des Herrschers, das Dokument fertigstellte und datierte, schmolz das paßgerecht geschnittene Siegelwachs im Tiegel über der Aufhängung einer speziellen Öllampe.
Nun hielt auch Cadugar seinen Herrscherlichen Siegelring bereit. Der Siegelverwahrer zog das Pergamentband durch einen vorbereiteten Schlitz am unteren Rand des Dokuments, zog es durch einen Doppelspalt in der Holzbulle, goß das Wachs ins Innere der Hülse und preßte das Große Siegel darauf.
Im Mittelfeld des Abdrucks war ein leeres Wappenfeld geblieben, und dort drückte nun Cadugar schnell seinen Siegelring auf.

"Hervorragend", flüsterte der Siegelverwahrer zu seinem Dienstkollegen Aramwar, "ein selten sauberer Abdruck - ein gutes Omen!"

"Wunderbar", flüsterte der Weise Cadugar seinem Archivar Aramwar zu, "endlich eine Verbindung von Wissenschaft und Handel, Ende der Forschungssorgen!"

"Vortrefflich", raunte Naraqwar seinem Neffen Aramwar entgegen, "jetzt steht unserer Handelsausweitung nichts mehr im Wege, auch keine Konkurrenz aus Barkhanat!"

Der junge Archivar war's zufrieden, dachte im Stillen:

"Nach drei Monaten heimlicher Beobachtung und stiller Verhandlungen war dies ein guter Zug von mir; Provision der Händler, Beförderung durch den Weisenrat, ein noch einzufordernder Gefallen des Siegelverwahrers, weil ich das Siegel repariert habe, welches er mit schlechtem Wachs verklebt hatte..."

Aramwar lächelte, und die anderen mit ihm.
Cadugar, Herrscher von Nuraniyya
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karam
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Beitrag von karam »

Das Pergament

Geschehen in der Ära Sangarta 10, Salmaqul 1364, entsprechend 382 nach Abanor

Ein leichter Nieselregen senkte sich schon seit drei Tagen über das Land und machte die Mauern des Schreibsaales feucht und klamm.
Der Weise Cadugar beschloß, die Kamine Wärme spenden zu lassen, und erteilte Anweisung, Feuerholz und Zündwerk herbeizubringen.

Während die Saaldiener mit dem Entfachen der Feuer beschäftigt waren, fiel dem Weisen auf, daß sich das Pergament unter seiner Hand mehr wellte als üblich. Das deutete darauf hin, daß es nicht ordentlich nachbehandelt war - ein Skandal angesichts der exorbitant hohen Preise des Pergamenthändlers aus Barkhanat!

Rasch begab er sich zu Aramwar am Nebentisch und sah sofort, daß auch dessen Schreibmaterial sich ganz typisch wellte. Um nicht unhöflich zu sein und das Gesicht des Archivars zu wahren, wandte sich der Weise indirekt an seinen Meisterschüler, indem er sich ein Siegelwachs nahm; wie angelegentlich blickte er auf das hervorragend aufgesetzte Schriftstück, was sich leider dennoch krumm und schief auf dem Pult hinschlängelte:

"Guter Aramwar, ist Euch nichts am Pergament aufgefallen?"

"Edler Weiser, wir machen, was nur menschenmöglich ist, aber dennoch verzieht sich das Pergament immer weiter."

"Ist das bei allen Pergamentblättern so, die wir derzeit bearbeiten?"

"Nein", versetzte der Archivar mit grimmigem Blick auf die verzogene Urkunde, "nur die Stücke der letzten Lieferung verhalten sich derart empfindlich. Besonders bei feuchtem Wetter."

Der Weise war erzürnt und rief einen der Saaldiener herbei: "Schickt einen Boten zum Oberhaupt der Pergamenter, Lederer, Färber und Gerber, mit der Bitte, SOFORT im Großen Schreibsaal der Akademie zu erscheinen. Betont, daß ich selbst mit ihm sprechen wolle."

Der Saaldiener verschwand, und Cadugar nutzte die Zeit, mit dem Kämmerer und dem Archivar die bereits benutzten Werkstücke zusammenzutragen: alle waren schlecht verarbeitet, und trotz aller Tricks zur Nachbearbeitung der Hautoberfläche mit Ochsengalle, Kalkpulver und Neuaufspannung war das Ergebnis eine krause, teils sogar feuchte Schreibfläche.
Ganze neun Großformat-Pergamente von Rindern und 34 Schafspergamente waren außerdem noch unbearbeitet im Lagerraum des Saales, auch sie gänzlich verschrumpelt.

Endlich erschien Dartumal, Gildenoberhaupt der Pergamenter und entrichtete seinen Gruß, und nach den diesmal kurzen Höflichkeitsfloskeln wandte sich der Weise an Aramwar, der theatralisch ein paar der ganz verdorbenen Dokumente vor dem Gildenmeister auf den Tisch legte. Dartumal war entsetzt, und vor dem Weisen ließ er die verkrümmten Stücke von der rechten Hand in die linke wandern, so als könne er sich nicht entscheiden, die teils verzerrten, teils aufgelösten Schriftzeichen anzublicken.
Als Aramwar mit dezentem Hüsteln auf den kindsgroßen Stapel der restlichen Lieferung zeigte, der neben ihm aufgeschichtet lag und schon von weitem wie helle, verknüllte Leintücher aussah, seufzte Dartumal und drehte seine Hände um, sodaß er die Handinnenflächen nach oben gerichtet vor Cadugar ausstreckte - eine Geste, die Ergebenheit in des anderen Entscheidung bedeutete.

"Ihr wißt ja, ehrenwerter Weiser, daß ich meine Ware von Großhändlern aus verschiedenen Städten Barkhanats beziehe. Noch nie gab es an den Pergamenten etwas auszusetzen..."
Traurig blickte Dartumal auf den noch unbenutzten Stapel, den er nun wohl ohne Abschläge zurücknehmen mußte.

"Woran mag es nur liegen, daß sich die Stücke so punktartig verziehen", fragte Cadugar und reichte Dartumal ein Großpergament. Im oberen Drittel, dort, wo der Hals des Tieres in den Nacken übergegangen war, hatte das Pergament quasi eine Beule gebildet, die im Maße einer Hand und oval wie eine Schüssel die Oberfläche verbog. Dartumal betrachtete angelegentlich den Fehler, sann etwas nach und sprang plötzlich empor, was bei ihm, dem spindeldürren Mann mit Vollglatze, recht eigenwillig wirkte.

"Ein Aufspannfehler, der mir vor drei Jahren seitens eines Pergamentmachers schon einmal unterkam, bewirkte einen ähnlichen Mangel. Damals glätteten wir alles durch eine beiderseitige Auflage von Leinenstreifen, die einen Tag in Lauge eingelegt wurden. Dann spannten wir je dreißig Pergamente mit den Einlagetüchern in große Schlegelpressen ein und ließen sie eine Woche darin, und anschließend trockneten wir sie eine Woche ohne Aufspannung."

"Nun ja", meinte der Weise, "das klingt gut, aber jetzt ist das Wetter feucht und zum Trocknen ungünstig..."

"Oh, das macht nicht viel, wir können die letzte Woche in einem geschlossenen Raum durch Kohleglut ausreichend Hitze erzeugen. Es genügt leichte Raumwärme, zuviel würde wiederum zum Verziehen der unbehandelten Stellen führen."

Dartumal war nun freudig erleichtert und erwartete des Weisen Entscheidung.
Schließlich entschied sich Cadugar, diese Behandlung zu versuchen, immerhin handelte es sich bei dem Vorrat um 32 Schafspergamente und 11 Rinderpergamente, sowie 16 schon auf Seitengröße geschnittene Stücke, die nochmals zwei Schafspergamente ausmachten. Sie einigten sich darauf, daß Dartumal die Behandlung in einem unbenutzten Raum der Baumeister durchführen lassen könne.

"Und welche Vorstellung habt Ihr zur Entschädigung für die bereits verdorbenen Dokumente?" Aramwar deutete auf einen kleinen Stapel, den die Schreiber derweilen aufgeschichtet hatten, etwa im Maße von drei Rinderhäuten.

"Vielleicht habt Ihr eine andere Verwendung dafür, dann nutzt sie eben so, und ich erstatte euch das Viertel des Kaufpreises für diese sowie den ganzen Preis für die schon beschriebenen Stücke zurück!"

Damit war Cadugar einverstanden, und Dartumal verabschiedete sich mit aller Höflichkeit. Doch bevor der Gildenmeister den Saal verließ, wandte er sich nochmals dem Archivar zu und raunte:

"Dieser Verarbeitungsfehler tritt nur dann so offen zutage, wenn außerdem jemand etwas Falsches auf den Pergamenten gelagert hat. Ich mache jetzt keine Sache draus, weil unsere Einigung zufriedenstellend ist und Ihr unser Großabnehmer seid, doch rate ich Euch, denjenigen zu finden, der diesen Fehler mitverursacht hat."

Der junge Gelehrte dankte dem Gildenmeister und begab sich unverzüglich zu den Lagerräumen der Akademie. Diese waren dem Küchentrakt benachbart, weil von der anderen Mauerseite her durch die Öfen die Wärme in das Gemäuer einzog und die Lagerräume solchermaßen mitheizte.

Aramwar betrachtete den Raum im Schein dreier Öllampen: Eßwaren und Nahrungsmittel lagen im Küchentrakt selbst, hier im Warenlager stapelten sich die unmöglichsten Dinge.
Nach einigem Suchen, Stolpern und Fluchen entdeckte er den Lagerort der Pergamente, Einbandleder und Schreibmaterialien: Pergamente wellten sich ja immer ein wenig, und so hatte jemand - offenbar, um die Häute etwa zu glätten - mehrere schwere Tonkrüge daraufgestellt!

"Diese Tonkrüge sind mit besonders feinem Quellwasser gefüllt", erklang hinter Aramwar die Stimme des Lagerverwalters, "und dieses brauchen wir zur Tintenherstellung."

"Nun, guter Mann, das ist sicherlich wahr, aber warum sind gerade diese Gefäße auf den Pergamenten abgestellt worden, wo doch ein jeder wissen sollte, daß diese unglasierten Krüge auch Wasser ausschwitzen?"

Herbei eilte der Verwalter, und während er unter einen der Krüge faßte und seine Hand die Feuchtigkeit fühlte, lief er tiefrot an.

"Bitte verratet dieses Mißgeschick nicht, edler Aramwar, ich hatte immer glasierte Tonware benutzt, aber der Nichtsnutz von Gehilfe hat sie zerdeppert, und als die nächste Quellwasserzuteilung zu uns kam, wußte ich mir keinen anderen Rat..."

"DAS ist ja nichts Schlimmes, diese Krüge kosten nur Minimalwerte, ein paar Kupfermünzen - doch eure Unachtsamkeit kommt die Akademie teuer zu stehen: die beste Qualität 200 Goldstücke pro Rinderhaut, immerhin 80 pro Schafshaut! Allein dieser Stapel hier, alte Lieferung, 20 mittelgute Rind- und daneben zehn Ziegenpergamente, kommt doch schon auf 1200 Goldkronen, die verdorbenen neuen Stücke kosten fast 2500 Goldstücke!"

Der Verwalter erbleichte; sein Jahresgehalt betrug gerade 2400 Goldstücke.
"Habt Erbarmen, Herr, Ihr wißt genau, daß ich eine so hohe Summe unmöglich aufbringen kann!"

"Nun, vielleicht gibt es da noch eine andere Möglichkeit...", gab sich Aramwar sinnend, während sich bei der Kleidung des Verwalters unter den Achseln und unter seiner Kopfbedeckung bereits die ersten Schweißflecken zeigten.

"Jawohl, das ist es! Von nun an kümmert Ihr Euch zusätzlich zu Euren Grundaufgaben rührend um den Einkauf der Speisen, denn in der letzten Zeit war das Essen doch recht fad... selbstverständlich wißt Ihr mit dem derzeitigen Budget gut auszukommen..."

"Ah ja, aber ja, sicher", troff der Verwalter vor Erleichterung, "und die Pergamente...?"

"Oh, das erledige ich, das soll nicht mehr Eure Sorge sein", sprach der Archivar leicht dahin und entließ den mehr als schnell davonstrebenden Verwalter.

Tags darauf wunderte sich der Weise Cadugar, wie gut auf einmal der Eintopf schmeckte...
Cadugar, Herrscher von Nuraniyya
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Der Trobadour

Geschehen in der Ära Sangarta 15, Salmaqul 1369, entsprechend 387 nach Abanor

Unruhe und gespannte Erwartung waren für jedermann in der Stadt spürbar; alles fieberte dem wichtigsten Fest des traditionellen Mondjahres entgegen, mit dem zugleich der größte Jahrmarkt einherging: von der fünften Nacht an würden zehn Tage lang die Vergnügungen, Spiele und Schlemmereien andauern.

Endlich war es soweit: alles beobachtete den jungen Neumond, nachdem der Rat der Stadt Nuraniyya feierlich den Beginn des heiligen Monats vekündet hatte, und mit dem Spiel der großherrscherlichen Hymne - welche zu spielen die örtlichen Hofmusiker Nuraniyyas die Ehre hatten - begann unter dem Jubel der versammelten Menge der Festreigen.

Der Weise Cadugar schlenderte zusammen mit seinem Archivar und einigen Honoratioren der Stadt auf den verstreuten Festplätzen umher: von den Musikpavillions zu den Jongleurzelten, von den Tierführern zu den Spaßmachern, dann weiter zu den Schaukeln und dem künstlichen Teich, auf dem kleine Boote herumfuhren...

Kunsthandwerker waren von weither gekommen, weil auch eine spezielle Kunstmesse zu dieser Zeit stattfand: insbesondere die Magier und Naturphilosophen kamen hier auf ihre Kosten, genauso wie Astronomen und Sterndeuter, Wahrsager und mediale Seher.

Schließlich kam die Gruppe der fröhlichen Festbesucher zu den äußeren Musikpavillons, denen sich passenderweise auch einige fahrende Musikinstrumentenhersteller angegliedert hatten.

Einer der Weisen der Akademie, Hanadro, der Gelehrte der Klänge, löste sich aus der Gruppe der Weisen, begab sich zu einem der Stände und begutachtete eine exquisit gearbeite Laute, die man in dieser Form selten in Nuraniyya sah, und noch während Hanadro seine Hand über den feinen Klangkörper gleiten ließ, sprach ihn jemand von der Seite an:

"Ein edles Stück in edler Hand,
wie sehr es Euch gebühret
wenn fester Klang in schön' Gewand
die Ohren aller betöret

Besteht die Kunst des Saitenschlags
vor allseits kund'ger Schar
verfliegt die Trübsal nachts und tags
sind Seelen frei und klar:"

Da wandte sich der Weise der Klänge nach rechts um und erblickte einen recht sonderbaren Mann:
Unter einem spitz zulaufenden Hut mit kecker Feder ein braungebranntes Gesicht mit Vollbart, der Oberkörper mit einem festen Lederkoller und Brustleder bedeckt, verstärkt mit Eisenplättchen.
Gestärkte Beinlinge aus gefärbtem Leder mit Eisenstreifen schauen unter dem kurzen, bunten Wollgewand unten hervor, und kurze, aber stabile Stiefel vervollständigten die Garnitur, die sowohl elegant als auch wehrhaft erschien, mit einem leichten Schlag zum Geckenhaften.

"Karpuntar", rief der Meister der Töne, und heftig umarmten sich die beiden. Verwundert traten Cadugar und Aramwar hinzu, doch alsbald erkannten sie den ehemaligen Meisterschüler des Weisen der Klänge.

"Du Schlingel bist also unter die fahrenden Künstler gegangen?"

"Sicher doch", entgegnete Karpuntar unter verschmitzter Verbeugung, die er dem Weisen Cadugar entbot, und das so gespreizt, daß der nicht wußte, ob sich der Spielmann nun etwa unterstand, sich lustig zu machen.
"Als Trobadour zieh ich durch die Lande, und selten fehlt es an bereitwilligen Fürsten, feinen Damen und fröhlichen Burschen, um die Tage verfliegen zu lassen im windschnellen Spiel!"

"Im windigen, du Windspiel eines hauchgeborenen Springinsfelds", versetzte Hanadro ironisch, "wo du doch eine steile Karriere als mein Nachfolger hättest einschlagen können. Aber dich zogs ja immer hinaus und fort vom Gewohnten..."

"Nun", setzte Cadugar an, "wir hätten derzeit einen besonderen Auftrag für Euch - allerdings etwas risikoreich..."

"Oh, das ist, glaub ich, nicht das Rechte für mich", wandte sich lächelnd Karpuntar zum Stand und streichelte eine zarte Leier, während der Verkäufer erwartungsvoll und mit Respektshaltung die erlesene Schar der Würdenträger beäugte.

"Ich war sicher, daß ein so beschäftigter Künstler wie Karpuntar keine Geldsorgen hat; tja, schade, dann eben nicht..."

"Moment", sprang da der Troubador vor, dem entsetzten Händler in hohem Bogen das Instrument zuwerfend, "ich habe nicht gesagt, daß es für mich unvorstellbar sei, es ist lediglich nicht das, was ich üblicherweise übernehme."

"Dann laßt uns einen Sitzplatz dort drüben suchen", meinte Aramwar und drängte die beiden Weisen und Karpuntar zu einem offenen Kochstand. Sofort eilten zwei Gehilfen des Kochs herbei und trugen für die übrigen Würdenträger die Vorspeisen auf, während der Koch den Vieren einen wunderschönen Platz hinter einfachen, aber kunstvoll aus Weiden geflochtenen Paravents anbot.

"Was darf ich den Herrschaften anbieten? Gerade ist ein hervorragender Lachs geliefert worden..."

"Bringt einfach davon für uns alle, und zudem gute Beilagen. Die Rechnung an die Akademie, zu Händen des Zahlmeisters des Rates."

"Aber natürlich, verzeiht, sofort, edle Weise", beeilte sich der Wirt unter Bücklingen und sauste davon.
Bald traten mehrere Diener hinzu und servierten zusammen mit dem Wirt mehrere Vorspeisen, dazu den Lachs in herzhafter Kräutersoße und stellten aromatisierte Getränke bereit, Spezialitäten aus Joghurt, Sorbets, mit Rosenwasser und Gewürzen versetzte Süßigkeiten, und zuletzt stellten sie feine Anissamenkörner in Schälchen bereit.

Während des Mahls besprachen Cadugar und Karpuntar das heikle Anliegen des Rates:

"Ein Troubadour hat Zugang zu den Höfen aller Regenten, auch zu denjenigen unserer Gegner", führte der Weise gerade aus, "und Ihr sollt ja nichts Verbotenes tun..."

"Lediglich von bestimmten Vorgängen unterrichten, nicht wahr?"

"Ihr braucht kein sarkastisches Lächeln aufzusetzen, guter Karpuntar, die Sache ist uns sehr wichtig!"

"Werter und edler Cadugar, meinen Kopf brauche ich über meinem Hemdkragen und nicht fern davon auf eine Lanze über dem Haupttor gespießt!"

"Aberaber, was meint Ihr denn, als ob ICH dies wollte...jedoch wären uns Eure Hinweise ... sagen wir... dreitausend Goldstücke wert..."

"Mein Leben ist mir mehr wert. Zweitausend für jedes Reich, das zu besuchen Ihr mir auftragt."

"Bei mindestens drei Einsätzen", versetzte Aramwar, dem das respektlose Gehabe gegenüber seinem Weisen nicht zusagte.

"Einverstanden, es gilt!" Karpuntar grinste und nahm einen tiefen Schluck seines Sorbet.


Später am Abend suchte Aramar die beiden Weisen Cadugar und Hanadro in Cadugars Privaträumen auf.

"Ihr habt mich rufen lassen, edle Weise?"

"Ja, guter Aramwar, setzt Euch doch bitte zu uns."

Und während Hanadro dem gespannten und verunsicherten Aramwar den Lehnstuhl zurückte, begann der Weise Cadugar, der Herrscher von Nuraniyya, mit seiner Erläuterung:

"Einerseits brauchen wir diesen Troubador; nur ein Spielmann wird ungehindert überall Zugang fnden, kein Fallgitter, keine Stadtbefestigung, kein Graben oder Torhaus ist für ihn unüberwindlich.
Andererseits...dieser junge Draufgänger wird natürlich ein doppeltes Spiel versuchen; ja wir wissen durch unsere Boten und Kundschafter, daß er dergleichen bei unseren Nachbarfürsten bereits versucht HAT. Doch es war uns daran gelegen, unseren wahrlich geschätzten Nachbarn den Beweis für seine Untreue zu erbringen, und daher sandten wir bereits Boten zu den Nachbarreichen, um sie vorzuwarnen. Sie werden ihn passieren lassen, aber er wird nichts Besonderes zu sehen bekommen. Daraufhin wird er - ER, der immer in Geldsorgen steckt, dieser Glücksspieler und Weiberheld Karpuntar - zu mir gekrochen kommen mit seinem Mißerfolg."

"Und dann", verwunderte sich Aramwar.

"Schicken wir ihn zu unseren FEINDEN! Entweder besorgen die ihm die zustehende Strafe für seinen Verrat, oder er bringt tatsächlich Informationen mit, die uns und allen unseren Verbündeten nützen!"

"Daher lassen die schon Betrogenen ihn also ziehen?"

"Ganz genau. Nur darf von all dem nichts an seine Ohren dringen, er muß in Sicherheit gewogen sein, andernfalls ist das Ganze umsonst."

"Umsonst", stöhnte Hanadro, "ist bei diesem Goldeinsatz eine schöne Untertreibung!"

"Oh, ganz im Gegenteil...sollte unser FREUND uns wiederum betrügen, werden ihn einige RÄUBER zufällig überfallen und um sein Gold erleichtern..."

Der Herrscher Cadugar gönnte sich ein bei ihm seltenes Lächeln, und alle waren froh, nicht an der Stelle des Troubadours zu sein.
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Der neue Herrscher

Aus den persönlichen Aufzeichnungen Cadugars, des späteren Herrschers von Nuraniyya

Im flackernden Licht mehrerer Kerzen zeichnen sich seltsame Zeichnungen von Maschinen und Erfindungen ab, die von längst verstorbenen Forschern auf feines Pergament gebannt wurden.

Cadugar – geborgen in seinem Studierturm, der letzten Zufluchtsstätte des Wissens in Barkhanat – legt die Rollen gerade zur Seite und will zwei neuere Bücher zum Vergleich danebenlegen, als auf der Wendeltreppe Getrampel und leise Stimmen ertönen.
Rasch packt er die Rollen in den ledernen Behälter, die Bücher ins Regal hinter ihm, als auch schon heftig an die schwere Tür des Studierraumes gepocht wird.

Weil Cadugar schon vor vielen Jahren einen verborgenen Sichtschacht hatte anlegen lassen, die Tür mit schwerem Eisenbeschlag gesichert ist und zudem ein nur ihm bekannter alter Geheimgang aus dem Gemäuer hinausführt, betrachtet er die draußen im Gang stehenden Männer. Im Fackellicht zeichnen sich die Gesichter des Stadtrates von Nuraniyya ab, flankiert von mehreren Mitgliedern des Regentschaftrates von Barkhanat.

Nachdem sie eingelassen wurden, folgen sie nur mit äußerster Selbstbeherrschung dem Ritual der Begrüßung, welches Fragen und Rückfragen nach Gesundheit, Familie, Kindern, Neuigkeiten und Segenswünschen umfasst. Endlich fordert sie Cadugar mit der traditionellen Bitte auf, sich zu setzen, und alle gruppieren sich, gemäß ihrem Rang, auf die Eckbänke im Studierraum, der nun freilich kaum mehr Platz aufweist als für ihrer Zehn, sodass die restlichen fünfzehn Männer vor der Tür stehen bleiben müssen.

So beginnt Aramqu, Reichsverweser von Barkhant, seine Rede:

„Edler Cadugar, wir kommen mit außergewöhnlichem Begehr. Wisset, dass vor drei Tagen in der Stadt Nuraniyya der letzte Stadtherrscher, Karhapu, durch Herzschlag verstarb; doch schon seit mehreren Jahren klagte uns der – auch hier versammelte - Rat jener Stadt über Misswirtschaft und Verfall. Doch hört sie selbst.“

„Edler Cadugar“, beginnt der Sprecher des Stadtrates, „auch wenn es sich nicht gebührt, über Verstorbene unlöbliche Rede zu führen, so muß doch der Gerechtigkeit den Bürgern gegenüber gesagt sein, dass der Dahingegangene – möge seine Seele Frieden finden – seine Situation weidlich zu seinen Gunsten ausnutzte und Korruption in der Stadt weit verbreitet war.
Da Nuraniyya in den Ebenen Tamars liegt, weit fort von unserer Weltgegend, war es uns erst letztes Jahr möglich, einen Boten an den Hof Eures geschätzten Vaters zu senden. Aufgrund der jüngsten Ereignisse – dem Tode Eures herrscherlichen Vaters, dem dadurch notwendigen Einsetzen des Regentschaftsrates über Barkhanat und der desolaten militärischen Lage unseres Landes – mussten die Belange des fernsten Außenpostens von Barkhanat, unserer Stadt Nuraniyya eben, zurückstehen.
Doch nun geht es um unsere bloße Existenz: weder ein Kriegsherr, noch ein Stadthalter von zweifelhafter Loyalität kann mehr helfen. Ein Sproß der herrscherlichen Linie muß versuchen, diesen Ort wieder zum Pol der Gelehrsamkeit und Wissenschaft, zur Trägerin des diplomatischen Lichtes, zum Zielpunkt der großen Geister werden zu lassen.“

„Und da hattet ihr wohl an meinen Bruder, Zaraqgar, gedacht?“

„Mit Verlaub, edler Cadugar, weniger an ihn, als an Euch.“

Entgeistert blickt Cadugar dem Ratssprecher ins Antlitz, um dann halb im Scherz, halb im bitteren Ernst zu fragen: „Meinst Du denn, mit Tinte und Pergament, mit Bücherwälzen und Forschen in Studierstuben lässt sich eine kleine, anarchische Stadt retten?“

„Gerade und nur durch die Tugenden, die Ihr eben aufzähltet“, erwidert der Sprecher des Rates von Nuraniyya, „denn wer mit Tinte und Pergament gewissenhaft umzugehen versteht, verwaltet gut, wer Bücher wälzt, müht sich und meidet die Faulheit und Bequemlichkeit, wer forscht in der Studierstube, kann vielleicht Lösungen auf neue Probleme finden, die schon von unseren Weisen der Altvorderenzeit aufgezeichnet und leider vergessen wurden.

Kurz, edler Herr, wir beraten uns nun seit zwei Tagen mit den Regentschaftsrat von Barkhanat, hatten freilich auch Euren Bruder, den edlen Herrn Zaraqgar, in die engere Wahl genommen, doch zum einen ist er eher ein Heerführer als Verwalter, zum anderen – offen gestanden – missfiel ihm auch, sich in einer fast zum Dorf herabgesunkenen Stadt einzufinden, die ja dem Rang eines Herrschersprosses nicht entspricht…“

Der Sprecher verstummte, vor Scham errötend, da ja dasselbe Argument für auch Cadugar galt; während die übrigen Ratsmitglieder verbissen und erfolglos versuchten, die Tränen zu unterdrücken, richtete sich Aramqu auf, erhob sich und brachte mit klarer Stimme den Satz vor:

„Edler Cadugar,
als Oberhaupt des Regentschaftsrates von Barkhanat habe ich – in Abwesenheit eines ordentlich gewählten Herrschers unseres Staates – die Pflicht und also auch das Recht, einem jeden Nachkommen der herrscherlichen Linie für die Dauer eines Mondjahres, solange nämlich unsere Regentschaft weilt, Aufgaben zuzuteilen. So bitte ich, mit allem Respekt, die Stadt Nuraniyya aus ihrer furchtbaren Lage herauszuführen und so auf dem fernsten Außenposten Barkhanats Ruhm zu mehren und unsere Weisheit und Gelehrsamkeit anderen Völkern darzubieten, ohne Waffe oder Armee, nur mit der Überzeugungskraft unserer Wissenschaften und Philosophie.“

Gemessen beugte sich Cadugar vor Aramqu, in der Erkenntnis, dass das Wohlergehen des Staates ihm keine Wahl ließ. Die Männer im Raum machten eine Gasse frei, und die hochherrscherliche Leibwache trat ein.

„Begleitet den edlen Cadugar zu den Festungskammern der Bastion, rüstet euch mit allen notwendigen Dingen aus und reist noch morgen ab. Verpackt zudem alle Schriften und Bücher und sämtliche astronomischen Gerätschaften der herrscherlichen Sternwarte, denn diesen Grundstock zum Neubeginn wird der neue Herrscher von Nuraniyya, der edle Cadugar, nötig haben.“

Hier endete alle Rede,sämtliche Versammelten verbeugten sich vor dem Gelehrten, während die Wachen salutierten.

Stille breitete sich aus, die Wachen traten zur Seite, und Cadugar blickte sich ein letztes Mal in seinem verlorenen Paradies des Forschens um. Schließlich riß er sich von dem Anblick los und trat entschlossen über die Schwelle des Turmzimmers, gefolgt von der Garde und dem Stadtrat von Nuraniyya, um niemals mehr zurückzukehren, unterwegs zu einem noch ungewissen Schicksal, doch erfüllt von einer erregenden und noch nie gewesenen Herausforderung.
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Beitrag von karam »

Die heimliche Reise

Geschehen in der Ära Sangarta 18, Salmaqul 1373, entsprechend 391 nach Abanor

Die Nachricht hatte ein Eilbote gebracht, drei Pferde waren zuschanden geritten worden, das letzte, vierte, wurde schweißbedeckt von den besorgten Stallbuschen in behutsame Obhut gegeben, während der Bote mit Ungeduld vor der Tür des Ratssaales der Akademie wartete.
Denn erst wurden von den Saaldienern die verschreckten und verärgerten Weisen aus dem Schlaf gerissen und dringend zur außerordentlichen Sitzung gebeten.

Nach kurzem Verweilen wurde der Bote eingelassen. Die Weisen saßen in Halbrund des prunkvoll geschmückten Ratsaales auf fein geschnitzten und mit wertvollen Intarsien eingelegten Thronsitzen, deren Lehnen weit über die Köpfe der Thronenden hinausragten und die mit den in Gold, Edelsteinen und Email ausgeführten Insignien der jeweiligen Künste geziert waren.
Der mittlere Thronsitz jedoch überragte die anderen durch einen Baldachin, der sternartig mit Brokat und Perlen an Goldfäden zusätzliche Pracht ausstrahlte. Der Weise Cadugar hatte das Staatsgewand der Regenten Barkhanats - das Siralhukum - angelegt, doch trug er auch die hohe Kopfbedeckung der Weisen der Astronomie und Naturmagie, da er dieser Kunst speziell vorstand.

Der Bote wurde von zwei Dienern rituell zum Thron des Regenten Nuraniyyas geleitet und begrüßte aufrecht den Weisen, indem er die vorgeschriebenen Handbewegungen und Formeln ausführte; dann übergab er wortlos die Lederhülle mit dem Staatsdokument.

Der Weise Cadugar öffnete das Futteral, zog die Pergamenthülle heraus, brach das Siegel und nahm das eigentliche Schriftstück hervor. Doch nur stockend las er, gemäß den Reichsstatuten, laut vor, so erschüttert war er von der Nachricht:

"An Cadugar, Herrscher von Nuraniyya, von Saraswir, Geheimsekretär des inneren Kreises der Weisen und des Regentschaftsrates von Barkhanat. Der Regentschaftsrat hat rechtskräftig beschlossen, Euch die Regentschaft über Nuraniyya zu entziehen, da die anstehenden militärischen Aufgaben Eurem Bruder Zaraqgar eher anstehen.

Euer Sekretär und Stellvertreter in Staatsdingen, Aramwar, soll für die Dauer Eurer Reise und Abwesenheit die Stadt Nuraniyya leiten. In spätestens drei Monaten habt Ihr Euch am Hofe der alten Residenz zur hohen Ratsversammlung einzufinden; dort könnt Ihr - falls berechtigt - Einspruch einlegen."
Dann folgten die nötigen Reichssiegel und Unterschriften.
Es war ein unmittelbarer Befehl und mußte auch unverzüglich befolgt werden. Wer dem Herrscher oder dem Regentschaftsrat in rechtmäßigen Befehlen nicht nachkam, mußte mit der Anklage der Verschwörung und des Aufruhrs rechnen. Auch Kleinfürsten und königliche Prinzen waren davon nicht ausgenommen, ja es betraf sie besonders, weil man ja von IHNEN eventuelle Gefahr fürchtete.

"Ich muß aufbrechen", sprach der Weise in die entsetzte Runde, während die anderen Weisen laut protestierten:

"Das hat irgendeine Hofschranze im Auftrag der Jakarantas verbrochen!"

"Niemals, dahinter steckt klar die Absicht, alle Thronanwärter gefangenzunehmen, wie weiland unter der Herrschaft des sündhaften Regenten Nargalim."

"Nicht doch, meine Herren, man will den ehrenwerten Bruder unseres Regenten einsetzen, weil er willfähriger ist, ungeachtet der Tatsache, daß er keine praktische Erfahrung in der Verwaltung hat."

"Wie dem auch sei", beendete Cadugars laute Stimme den Disput, "wir müssen die Möglichkeit nutzen, einen Bürgerkrieg zu vermeiden, und außerdem scheinen mir die Motive etwas vorgeschoben. Tatsächlich mag es sein, daß unsere Treue erprobt werden soll, aber ein Herrschaftswechsel gar nicht ansteht."

Aramwar erbat sich das Wort: "Doch findet Ihr es nicht merkwürdig, daß trotz all der regelmäßigen Botschaften und der vielen Brieftauben, die unsere Nachrichten mit detaillierten Darstellungen der Lage nach Barkhanat brachten, so eine Fehlentscheidung vorgeschoben wird? War doch dieser Punkt der Waffentüchtigkeit bei Euer Wahl bereits als unzureichend erachtet worden. Mittlerweile haben wir hingegen Fürsprecher in den heimatlichen Gilden, der Weisenrat war von den Fortschritten der Forschung beeindruckt, kein fremdes Heer hat - im Gegensatz zu anderen Reichsteilen Barkhanats - Nuraniyya verletzt. Da ist doch Eures Bruders Waffeneignung als Argument schlicht dumm! Und eines Regentschaftsrates unwürdig!"

"Ganz meine Meinung", "so ist es, bei des Himmels Tiefe", "alle wahnsinnig geworden unter ihren Baldachinen“, "das Ende von Wissenschaft und Gelehrsamkeit ist gekommen", hallten die Wutschreie der Weisen im Saale wieder.

Endlich erhob sich der Weise Cadugar und forderte ein Stehpult, Pergament und Tinte. Eiligst schleppten die Diener das hölzerne Pult herbei. Vor aller Augen schrieb der Weise zwei Seiten voll, unterzeichnete und ließ der Sitte entsprechend den ältesten der Archivare laut vorlesen, was der alte Gelehrte voller Stolz, mit etwas zittriger Stimme, tat:

"Mein Testament ist gesiegelt und soll unmittelbar nach Bekanntwerden meines Todes von den Angehörigen vollstreckt werden. Im Falle meiner Gefangennahme wird die Stadt Nuraniyya dem Regentschaftsrat ihre Gefolgschaft aufkündigen und sich fürderhin als selbständig betrachten, bis ein gerechter Herrscher erneut in Barkhanat eingesetzt wird.

Sollte keinerlei Nachricht von mir erhalten werden, sei es mittelbar oder direkt, binnen eineinhalb Jahre, soll der Rat von Nuraniyya ein neues Oberhaupt in Vertretung wählen und in Barkhanat nach dem Stand der Dinge fragen."

Das Dokument wurde durch Cadugars Petschaft gesiegelt und von den Weisen ebenfalls per Siegel bestätigt; das Testament wurde Aramwar zur Verwahrung gegeben, der Erlaß hingegen öffentlich im Ratssaal der Akademie zur freien Einsicht aufgehängt.


Am Abend trat Aramwar in den Stall, wo die Diener bereits auf den Herrscher und Weisen Cadugar warteten. Von den anderen Weisen hatte sich Cadugar bereits in bedrückter Stimmung verabschiedet, und nun trat er in den Hof hinaus und zu seinem jungen Archivar, der die Tränen der Wut und des Schmerzes kaum zurückhalten konnte.

Zehn berittene Kämpfer und drei Seitpferde mit Zelten und Proviant bis zur nächsten Festung auf Barkhanats Boden würden den Weisen begleiten; der Archivar würde Übergangsregent des Stadtstaates sein, mehr Privilegien, Einkommen und Möglichkeiten zu Ruhm und Aufstieg haben als andere auch nur erträumen könnten.
Doch die geistige Bindung zu Cadugar, der sein Lehrer, väterlicher Berater und Vertrauter war, ließen es Aramwar unmöglich erscheinen, sich der neuen Stellung zu erfreuen.

Der Weise saß bereits im Sattel und winkte Aramwar zu sich, während er der Begleitmannschaft befahl, außer Hörweite zu warten, bis er das Zeichen zum Aufbruch gäbe.

"Höre, Aramwar", begann der Weise, "ich bin sehr sicher, wiederzukommen. Verhalte dich ruhig, greife während meiner Abwesenheit nach keinem Angebot der fremden Herrscher, und versuche, den verbündeten Nachbarn zur Seite zu stehen. Laß an unserer Loyalität und sachlichen Hinwendung zur Gerechtigkeit niemals Zweifel aufkommen."

"Seid gewiß, das tue ich."

"Für die landwirtschaftliche Verwaltung ist Vorsorge getroffen, aber warte mit diplomatischen Briefen, bis sich jemand an dich wendet, und merke dir genau, wer. Durch unseren Rohstoffmangel sind wir jetzt zur Untätigkeit verdammt, aber ich glaube, der Himmel tut sein Schicksalsurteil schon bald kund."

Cadugar gab ein Zeichen, Rufe erschallten, und die Begleiter ritten zum Stadttor, das bereits geöffnet war.

"Sei standhaft, zeige dich deiner Ahnen würdig, Aramwar, und warte bis zum 11. Neumond auf mich, ich werde nach der Sterne Weissagung wieder hier eintreffen."

Sie reichten sich die Hand, dann schloß sich die Reisegesellschaft zum herrschaftlichen Reiterzug zusammen, dem Diener, Köche und Gefolge nachritten.

Von dem obersten Geschoß des Stadttores aus folgte ihnen Aramwar mit seinem Blick, bis sie der Nebel verschluckt hatte.
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Beitrag von karam »

Die Prinzessin

Geschehen in der Ära Sangarta 20, Salmaqul 1375, entsprechend 393 nach Abanor

Dieser Tage summte es in der Bibliothek wie in einem Bienenstock; sogar den Weisen fiel die Unruhe unter den Novizen und Archivar-Anwärtern auf, die allesamt sehr junge Männer waren.

Erst durch den dezenten Hinweis des Archivars Aramwar löste sich der Nebel: eine der ranghöchsten Prinzessinnen des Reiches Barkhanat würde im Laufe des Nachmittags eintreffen.
Schon waren die Vorauskomandos der großherscherlichen Leibgarde mitsamt dem Hauptquartiermeister und der großherzöglichen Leibzofe der Prinzessin eingetroffen, und es war Aramwars unglückliche Aufgabe, in dem Gästetrakt der Akademie einige Räumlichkeiten zu finden, die dem hohen Besuch angemessen waren.

Zusammen mit dem Hauptquartiermeister studierten sie gerade einen Grundplan der Akademie und waren sich ungefähr über die zu reservierenden Räume und Zimmerfluchten einig, als der Weise Cadugar hinzutrat und sich der Hofzeremonienmeister auf ihn stürzte:

"Edler Weiser und königlicher Regent, des Himmels Würde lasse seinen Glanz auf Euch scheinen und Eure Stadt erblühen."

"Auch Euch gebührt des Himmels Glanz und der Segen der Elementarkräfte."

"Meine Herrin, die designierte Großfüstin Nurmantu, wünscht in Euren würdigen Hallen für eine Frist Wohnstatt zu nehmen."

Tatsächlich war dieser Staatsbesuch schon vor Monaten arrangiert worden, doch dem Ritual gemäß antwortete der Weise und alle Anwesenden gemeinsam:
"Es ist eine Würde und Freude, und unsere Wohnstatt sei die Eure."

In Anerkennung des besonderen Status Cadugars als Angehöriger des regierenden Herrscherhauses setzte der Hofzeremonienmeister formvollendet hinzu:

"Möge die Welt der Translunaren Kräfte immer und überall diesen Hort von Weisheit und gerechtem Urteil schützen."

"Und Euch und Eure Herrin ebenso", antworteten die Versammelten.

Dann zerstreuten sich eiligst die freien, einfachen Diener, stoben in alle Richtungen davon, um nur schnell den ersten Blick auf den langen Zug der großherrscherlichen Kavalkade zu erhaschen, dessen prunkvolle Vorhut soeben auf dem Hügelkamm zu erkennen war.

Nur äußersten selten hatte ein so hohes Mitglied der Herrscherfamilie offiziell die Reise nach Tamar angetreten - abgesehen von dem Weisen Cadugar, doch dieser war ja eher auf geheime und schnelle, fast schon überstürzte Art und Weise nach Nuraniyya aufgebrochen.

Während die Leibzofe der Prinzessin zusammen mit dem Hauptquartiermeister die angewiesenen Räume begutachtete und auch dort Diener nur so umhersausten - Laken, warme Decken, feine Stoffe und reinigendes Räucherwerk, frische Früchte und edle, bronzene Wassergefäße mußten auf jedem Zimmer bereitstehen -, versetzte sich Cadugar in innere Versenkung und rief sich die wenigen Erinnerungen an Nurmantu in sein Gedächtnis...

Sie war rund zwanzig Jahre jünger als er, eines der letzten nachgeborenen Herrscherkinder aus der Hauptlinie des jetzigen Herrscherhauses. Während er und sein Bruder Zaraqar stets im Augenmerk des Regentschaftsrates gestanden hatten, wurde diese junge Frau damals nicht beachtet.

Zu unrecht, wie sie schmerzlich herausstellen sollte - ja wie es sich schon gezeigt hatte.

Nurmantu war sehr gebildet, an die Macht gewöhnt und entschlossen, sie einzusetzen. Schon ihre ältere Schwester, zugleich Halbschwester väterlicherseits des verblichenen letzten Großkönigs Sangarta, hatte den Regentschaftsrat beeinflußt, die Wahl des neuen Großherrschers hinauszuschieben, bis Nurmantu, letztes leibliches Kind des Verstorbenen, ihm nachgeboren, volljährig sei.

Nunmehr war dies eingetreten, und da die Reichsstatuten Barkhanats die oberste Herrschaft eines weiblichen Mitglieds der Königsfamilie unter bestimmten Bedingungen vorsahen, mußte der Fall geprüft werden. Hier sahen aber Nurmantus Mutter, Fürstin Rasalyu, und einige Berater der Fürstin eine Gefahr durch ihn, Cadugar.
Der Fall, daß ein Brudersohn des Verstorbenen und ein nachgeborenes Kind miteinander um den Thron konkurrierten, war schon mehrfach aufgetreten, auch der Fall einer Abwägung von weiblicher und männlicher Nachfolge, und so gaben die Reichsstatuten dafür etwas vor: im ersten Fall sollte das Nachgeborene herrschen, im zweiten das männliche Mitglied des Herrscherhauses.
Doch nun, da BEIDES zugleich vorlag, sahen sich die Mitglieder des Regentschaftsrates hin- und hergerissen und erwirkten - nicht zuletzt auf Drängen der Fürstin Rasalyu - einen mehrjährigen Entscheidungsaufschub, ein bislang noch niemals vorgekommener Verstoß gegen die Reichsstatuten. Eben weil sich auch die Fürstin nicht sicher war, ob die bloße Abstammung zur Sicherung ihres Herrscheranspruchs ausreichte, ließ sie Nurmantu in allen Wissenschaften und geheimen Künsten ausbilden, bis sich der Verdacht bei manchen der Weisen in der Frage einstellte, ob Nurmantu nicht mit schwarzer Magie ihrer Sache nachhelfe...

Da beschloß Fürstin Rasalyu, die Sache selbst zu beschleunigen, und erhob - sogar gegen den Rat ihrer weisen Tochter - im geheimen Staatsrat Anschuldigung gegen Cadugar und verlangte seine Absetzung als Herrscher von Nuraniyya.

Cadugar atmete tief ein und seine Trance wurde tiefer.

Dies alles war vor einem Jahr gewesen, daher seine Reise nach Barkhanat.

Wie schön Nurmantu damals im Staatsgewand erglänzte, wie fein und stolz zugleich ihre Rede vor dem Geheimrat der Regenten, mit der sie sich zugleich selbst von dem Vorwurf ihrer Mutter distanzierte und ihn, Cadugar, auf den Platz zurückschickte, von dem aus er ihr nichts anhaben konnte: nach Nuraniyya, fern der Schaltstellen der Macht, im Außenposten, der reich und blühend, wohlgeschützt, fern des Gerangels bei Hofe, nur der Bildung und Gelehrsamkeit lebte...

Cadugar begrüßte die ersten Abteilungen der Höflinge, doch rein mechanisch sprach seine Zunge die Formeln der Höflichkeiten, während sein Geist daran keinen Anteil hatte...

"Edler Weiser", hatte ihm damals Nurmantu in einer vertraulichen Mitteilung geschrieben, heimlch zugesteckt von einer Zofe im Regentenpalast, "nur wir beide haben das Zeug, Barkhanat zu neuem Glanz zu bringen. Vergeßt meine Mutter, denn ich habe dafür gesorgt, daß von ihr keine Gefahr mehr für Euch ausgehen wird. Erwartet mich im kommenden Herbst bei Euch in Nuraniyya."

Zwei Tage später war es zu einem Umsturzversuch gekommen, der aber niedergeschlagen wurde; Fürstin Rasalyu wurde zu lebenslanger Verbannung verurteilt, die bewaffneten Aufrührer der Revolte wurden öffentlich gevierteilt, die übrigen Bewaffneten gebranntmarkt und sonstige Mitläufer und Mitwisser auf Lebenszeit von allen Ehrenämtern ausgeschlossen.
Der Regentschaftsrat entschied sich anschließend, Nurmantu zur neuen Großfürstin Barkhanats zu ernennen und später zur Großherrscherin zu krönen, sobald ihr Wissen von den Weisen der Akademie für würdig befunden sei. Diese Bedingung sahen die Reichsstatuten im Krönungsfalle einer Frau vor.

Cadugar beendete seine Versenkung und schemenhaft nahm für ihn die Welt Nuraniyyas wieder Form an; jetzt erhoben sich die fürstlichen Klänge der Staatshymne, und alle Bediensteten standen in Respektshaltung Spalier.
Die königliche Leibgarde ritt durch das Haupttor ein, angeführt von den schwergepanzerten Kürassieren, dann folgten die Standartenreiter mit den Feldzeichen der Generäle, des Regentschaftsrates und der Familie des Großherrschers. Darauf folgte die Kavalkade der Höflinge, flankiert von Lanzenträgern und Säbelkämpfern.

Da verkündete ein unverkennbarer Schleier von Duft und Parfum, daß die Prinzessin mit ihren Hofdamen nahte, und alle bewunderten die Anmut und Kraft, mit der sie in der Sänfte thronte, umgeben von ihrer bewaffneten Leibgarde, den 40 in geheimen Künsten ausgebildeten und geschmückten Fürstinnen des Kriegssterns, eine schöner als die andere.

Weder Mann noch Frau aber konnte sich der gewaltigen Aura der Macht entziehen, die Nurmantu einhüllte, nicht minder körperlich als der Wohlgeruch des Parfüms, so als trüge sie zwei unsichtbare Kleider über ihrem silberbestickten und juwelenbesetzten Staatsgewand...

Gespannt blickte Cadugar zu dem neben ihm stehenden Aramwar: jener stand wie gebannt da und wand seinenBlick hin und her, weil er sich schämte, so unverwandt auf eine ihm fremde, edelgeborene Dame zu blicken. Cadugar war durch seine eigenen Kenntnisse der Naturmagie gefeit vor dem Zauber Nurmantus, und das spürte die Prinzessin. In einem Augenblick, einem Augenschlag nur, trafen sich die Blicke der zwei Männer und der Prinzessin, und während Cadugar standhielt, erkannte er, wie sich die Kraft Aramwars und der Prinzessin vereinigten, und auch wenn die Prozession weiterzog, war für Cadugars Bewußtsein ein festes Band zwischen den etwa gleichaltrigen Menschen zu spüren.

Um Aramwar daraus zu befreien, rezitierte Cadugar still einige Formeln, und Aramwar wandte sich zu ihm um. Der junge Archivar wußte, und Cadugar ebenso, daß die Prinzessin diese geistige Verbindung gewollt hatte, doch warum? Verwirrt rückte Aramwar näher zum Weisen, doch nun war der Zug der Reisenden vollständig im Hof versammelt.

Cadugar straffte sich und trat würdevollen Schrittes auf Nurmantu zu, war er doch von nicht minderer Abstammung als sie.

Die Prinzessin erhob sich aus dem Thronsitz und schritt gemessen auf Cadugar zu, und es war den Umsehenden, als schwebten zwei Energiekugeln aufeinander zu.

"Dank sei Euch, und Segen und Kraft, gepriesen sei des Himmels Macht", begann Nurmantu die Begrüßung, und Cadugar gab die entsprechende Antwort: "Die Würde des gerechten Herrschers gleicht dem Ruhm des aufrichtigen Weisen."

"Und Ihr verbindet drei Vorzüge, guter Cadugar: Edle Abstammung, Weisheit und kluge Leitung."

Nurmantu lächelte, und ihr Charme ließ die Frauen vor Eifersucht zittern, die Männer vor Begehren.

Aramwar blickte sie an, und sie erwiderte dieses Band, indem sie wahre Blitze aus dem dunklen Tiefgrund ihrer Augen schickte, und der Aufschlag ihrer Wimpern war wie das langsame Dahinziehen zarter Fächer.

"Und Ihr seid sicherlich der fähige Archivar dieses hochberühmten Weisen?" Mit einer nur angedeuteten Bewegung ihrer Hand, mit der sie ein Taschentuch aus feinster Seide hielt, hüllte sie die beiden Männer in eine unsichtbare Wolke aus erregendem Parfüm ein, und Aramwar errötete, als er antwortete:

"Dieses Lob ist gewiß übertrieben, erhabene Großfürstin."

"Keineswegs, lieber Aramwar", erklang es ihm wie Dröhnen in den Ohren, indes Nurmantu auf Ellenlänge nähertrat, "Eure Abstammung und Fähigkeiten...sind bis an Unser Ohr gedrungen und sollen auch von Uns gewürdigt werden. Später", sprachs und wandte sich kokett zu ihrer Leibgarde zu, den Kriegerinnen Befehle in barschem Ton erteilend.

Aramwar, der sich in den allermeisten Fällen sehr schlau und gerissen zeigte, stand wie angewurzelt da und lief dunkelrot an, vor Empörung über diese den Sitten der Weisen zuwiderlaufende Verhaltensweise. "Der heutige Adel verhält sich so", raunte ihm Cadugar zu, "wir besprechen noch, wie du dich aus dieser...Affaire herausziehen kannst." Verbissen nickte der junge Archivar und schritt in forschem, etwas ruckartigem Gang zu den Saaldienern hin.

Wahrlich, dachte Cadugar, diese Frau weiß sich gut in Szene zu setzen; sie ist skrupellos und wird alle Mittel einsetzen, um mich gefügig zu machen, und sie ist schlau genug, es über den mir am Nahesten stehenden Meisterschüler zu versuchen. Warte, dir Katze werde ich schon die Krallen schleifen!

"Edler Weiser", sprach leise ihn unversehens eine Zofe von der Seite her kommend an, "meine Herrin, die dritte jüngere Schwester von Großfürstin Nurmantu, bittet euch zu einem kurzen Gespräch im Saal der alten Archive. Vertraulich."

Sprachs und verschwand wieder in der Masse der unzähligen Diener und Angestellten des Großherrscherlichen Reisehofstaats, der mittlerweile wie eine wispernde und duftende Flut in den zugewiesenen Arealen und Fluren der Akademie parlierte.

Cadugar begab sich zu dem genannten Saal, und immer wieder begegneten ihm die Gelehrten und Schüler in Verwirrung, die einen verärgert über die Unruhe in ihrem Forschungsleben, die anderen freudig erregt in Gesprächen mit interessierten Höflingen.

Der Saal der alten Archive war - wie sein Name es auch nahelegte - als Ablageraum für die Annalen und Aufzeichnungen der vergangenen Reiche und Epochen ausersehen worden. Naturgemäß fanden die alten Berichte nur bei wenigen Gelehrten Interesse, und so war es der ideale Platz für ein vertrauliches Treffen in der Öffentlichkeit.

Immerhin schien die Dame einen gewissen Anstand zu haben, und dieser Eindruck bestätigte sich für den Weisen, als er den Saal betrat.

Fidamantu, in exakter Abstammung die dritte jüngere Halbschwester väterlicherseits von Nurmantu, wandte sich von einem Bücherregal herum und verbeugte sich mit Anmut und Würde. Zwar hatte sie Liebreiz, aber nicht die ungewöhnlich wilde Schönheit ihrer Halbschwester; dafür aber strahlte sie eine Aura von Reinheit und Klarheit aus, die der Naturmagier Cadugar sofort wie ein frisches Wasser empfand.

"Edler Weiser, ich danke Euch, daß Ihr so rasch hierher gefunden habt. Es gibt einige Nachrichten, die es erfordern, daß ich mit Euch an diesem Orte spreche."

Beide gingen vor den Rollenfächern hin und her, zogen angelegentlich mal hier, mal dort eine Schriftrolle hervor, ahmten ein wissenschaftlich arbeitendes Paar nach.

"Werte Fidamantu, welches Interesse hat Nurmantu an meinem Archivar?" "Aramwar? Nun, sie erwägt eine Verbindung der älteren Herrschersippe der Munayra und die der ihren, der Nachkommen Sangartas. Daran ist ja auch nichts Unrechtes. Wie kamet Ihr auf diesen Ihren Plan?" "Ihre Aura versuchte, Aramwar zu überwältigen, und fast wäre es ihr gelungen. Ist es nicht verwerflich, wenn ein Mensch, der doch von sich aus genug Schönheit besitzt, immer durch Magie zwingen will?"

Fidamantu blickte Cadugar geradewegs ins Angesicht: "Wenn es so wäre, spräche das eher für die Unsicherheit meiner Halbschwester als für eine schlechte Charaktereigenschaft. Laßt mich versichern, bezüglich des klaren Willens und Planens geht es ihr in erster Linie um Euch."

"Inwiefern? Etwas, was noch nicht in Barkhanat angedeutet wurde?"

"Edler Weiser." Fidamantu blickte sich um; niemand befand sich in ihrer Nähe. "Die Reichsfürsten und der Regentschaftsrat wären mit Nurmantu als Großherrscherin über ganz Barkhanat einverstanden, doch verlangen sie Euer Gutachten zu Ihrer Herrschertauglichkeit."

"Will sagen: Nurmantus Thronbesteigung hängt von mir ab?"

"In diesem Falle ja, edler Weiser." Fidamantu zog vorsichtig die Spitze einer Briefrolle aus ihrem weiten Ärmel. "Hierin sichert Euch Nurmantu zu, Eure Ansprüche auf Nuraniyya bis zu Euren Erben in dritter Generation zu gewähren; mehr kann sie laut Reichsgesetz nicht geben."

"Ich weiß", nickte Cadugar. "Und... was ist Ihre Forderung?"

"Euer günstiges Gutachten. Außerdem schlägt sie Euch einen Pakt vor, dessen Einzelheiten Ihr ebenfalls in diesem Schreiben finden werdet. Lest es sorgfältig durch, und wisset, daß Ihr völlig frei seid, dieses Abkommen anzunehmen oder nicht."

Mit einer geschickten Bewegung zog Fidumantu eine große Behälterrolle aus dem Regal und öffnete bewußt den Deckel, sodaß die kleinen Schriftrollen herausfielen. Zugleich ließ sie die kleine Rolle aus ihrem Ärmel dazufallen. Darauf wandte sie sich ab, während Cadugar - ihren Wink verstehend - alle Rollen in die Lederhülle zurückstopfte und mitnahm.

Als er den Saal verließ, merkte er, daß er verfolgt wurde.

Er schritt schneller aus und tauchte in den ersten Besuchergang ein, wo schon die Diener und Zofen durcheinanderwirbelten und die Zimmer ausstatteten. Cadugar rezitierte einen Spruch, der ihm die ätherische Aura des Willens seines Verfolgers kennzeichnete, und blickte sich halb um. Nur für ihn sichtbar spannte sich ein bläulicher Bogen um den Kopf eines jungen Mannes, der die Hoftracht mittleren Ranges trug und ebenfalls den Lauf einhielt.

Der ist kein Höfling, dachte der Weise, seine Robe ist zu glatt. Alle Höflinge, die die Großfürstin Nurmantu begleitet hatten, trugen wegen des langen Rittes verknitterte Kleidung, und der offizielle Empfang im Großen Saal sollte in einer Stunde stattfinden. Bis dahin mußten die Höflinge in unmittelbarer Nähe der Leibgarde bleiben. Offenbar ein Aufklärer, der sich erst hier umgezogen hat, und sich mit der Hofetikette nicht gut auskennt. Dumm für ihn, daß zwar die meisten Gelehrten der Akademie aus dem niederen Adel und den gebildeten Bürgern stammen und diese Regeln nicht beherrschen, wohl aber ich, Cadugar, aus dem königlichen Geschlecht der Sangarta-Sippe.

Schnell wandte sich der Weise in eine Nische und drückte eine im Dunkeln liegende Leiste, sodaß sich ein Geheimtür auf leisen, geölten Achsen drehte und ihn hineinließ.

Als sich der Gang wieder schloß, hörte Cadugar, wie der junge Mann keuchend in der Nische atmete, herumtastete, zu fühlen versuchte und schließlich - nicht ohne einem Fußtritt gegen die Wand geführt zu haben - fortging.
Der Gang war ein Teil der besonderen Einrichtungen des Akademie-Bauwerks und führte, nochmals gesichert durch eine Geheimtür mit Mechanismus, durch einen falschen Kamin in einen kleinen Privatraum, der ansonsten nur durch eine andere, dritte Geheimtür von einem Außengang erreichbar war. Jene letztere Tür war allerdings mit einem Kombinationsschloß versehen, nicht mit einem Apparat in den Mauern verbunden, damit derjenige im Raum nicht durch widrige Umstände eingeschlossen und unrettbar verloren wäre.

Im Dunkeln tastete der Weise in die Nische, wo Feuerwerg und Flintstein bereitlagen, nebst einer kleinen Kerze. Sobald er das Werg entzündet hatte, brannte Augenblicke später auch die Kerze, und er begab sich zu dem Tisch, der in der Mitte des Raumes stand und mehrere Öllampen trug.

Bald war alles hell erleuchtet. Da es zwar Frischluftschächte zum Dach, aber keine Fenster gab, brauchte er wegen des hellen Lichtscheins keine Entdeckung zu fürchten.

Niemand außer ihm, nicht einmal Aramwar, kannte diesen Raum; hier bewahrte Cadugar seine wertvollsten und geheimsten Dokumente, Bücher und Gegenstände auf.
Es war weder kalt noch warm in diesem Raum; er war bewußt über den Heißluftkanälen der Bodenbeheizung erbaut, und lag mit den Hypokaustenschächten des Großherrscherlichen Traktes auf einer Höhe, genoß daher auch denselben Komfort. Nur Tageslicht war ihm versagt.
Im Schein der bronzenen Öllampen und illuminierten, vielfarbigen Glaseinsätze brach er das Großherrscherliche Siegel und las die Botschaft.

Er las sie nochmals.

Dann schloß Cadugar die Augen und dachte nach, den besagten halb entrollte Pergamentstreifen in seiner rechten Hand wiegend.

'Also muß ich Aramwar doch mit einbeziehen', erkannte der Weise, und beschloß, seinen Archivar in den Vorratsräumen unter einem Vorwand zu sprechen. Es mußte unbedingt noch vor dem Treffen Aramwars mit Nurmantu geschehen. Das Schicksalsrad hatte sich bereits heftig in Bewegung versetzt...
Cadugar, Herrscher von Nuraniyya
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karam
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Gelehrter oder Prinzgemahl?

Beitrag von karam »

Auch wenn Aramwar äußerlich ruhig den Saaldienern Anweisungen gab und den Leibzofen des Hofstaates ihre Räumlichkeiten zuwies, so kochte er doch innerlich.
'Wie kann sie es wagen, mich in aller Öffentlichkeit so zu blamieren? Was soll das Ganze? Glaubt sie etwa, ich würde meinen Kopf aufs Spiel setzen mit einem ungebührlichen Treffen?'
Für einen Moment stellte er sich vor, wie er und Nurmantu allein, hinter geschlossenen Türen, sich gegenüberständen. Der Gedanke erregte ihn zwar, doch sofort schrillte eine verborgene Glocke in seinem Verstand. Laut Reichsstatuten hatte ein Mann, der ohne Zeugen bei einer ledigen Prinzessin des Hochadels angetroffen wurde, sein Leben insofern verwirkt, als die nächsten Angehörigen seine Hinrichtung verlangen konnten, aber nicht mußten.
Dieses harte Gesetz war in der Ära Sangarta nach drei Fällen von Vergewaltigung und erzwungener Ehe nach angeblicher Liebesnacht erlassen worden, um die unverheirateten Jungfrauen der mächtigen Familien zu schützen; dieses Gesetz galt daher für die niederen Adelshäuser und die Bürgerlichen nicht.

Er dachte - und das nicht zum ersten Mal - über eine Heirat nach, die ihn mit den heute führenden Adelsfamilien verbände und einen Aufstieg in Staat, Verwaltung und Heer garantierte.

Konnte diese unverblümte Aufforderung Nurmantus als indirektes, wenn auch plumpes, Eheangebot verstanden werden, oder machte sie sich lediglich über ihn lustig?

Die Gedanken flatterten durch seine Vorstellung wie aufgeregte Vögel im Käfig, und so setzte er sich von den Höflingen ab und zog sich in den Saal der alten Schriftrollen und Archive zurück, der kaum noch von den Gelehrten genutzt wurde. Wahrscheinlich würden hier nur die ältesten Gelehrten der Akademie mit zitternden Fingern alte Folianten wälzen. Eine Welt in Stagnation - was ihm in seiner seelischen Unruhe aber durchaus verheißungsvoll erschien.

Fidamantu hatte sich nach des Weisen Cadugars Enteilen an einem Regal festgelesen; überhaupt war sie es gewesen, die bei Hofe als treibende Kraft diesen Besuch immer wieder vorgeschlagen hatte. Sie war dabei keineswegs uneigennützig; ihre Bücherversessenheit und Geschichtsbegeisterung fand in Barkhanat nicht die richtige geistige Nahrung.
Eigentlich entsprach Fidamantu sehr viel mehr dem Ideal der klassischen Gelehrten der Akademie als viele der adligen Neuschüler und Adepten, die gerade jetzt mit den Zofen herumscharwenzelten und den Hofdamen schöntaten.

Gerade entrollte sie freudig eine zweihundertjährige Handschrift, die seltene Einblicke in die Genealogie der Munayra und Sangarta gewährte, und drehte sich um, weil sie den kleinen Schriftduktus auf dem Pult betrachten wollte - da sah sie Aramwar, und Aramwar sah sie.

Dieses Bild sollte er nie vergessen: eine zarte, hochgewachsene Person, mit klarem Blick und gerader Körperhaltung, die eine alte, verkrümmte Sammlung zerfaserter Manuskriptseiten so vorsichtig und respektvoll mit flachen Händen hielt, daß man meinen könnte, ein Säugling würde von seiner Mutter vorsichtig in Bett gelegt, und nicht ein Haufen alter Blätter auf ein Pult gesetzt.
Es lag in dieser Haltung eine Würdigung des Zeugnisses längst gestorbener Hände, dieser Spuren von Menschen, an deren Gesichter sich kein Lebender mehr erinnern konnte, dieser Wunsch, die Geheimnisse von Gedanken und Schatzhäusern des Wissens zu erkunden, der zwischen den verblassenden Schriftzügen von einst bis heute verborgen lag.

Aramwar wußte in diesem Moment, daß er und Fidamantu im geistigen Sinne verwandt waren, mehr noch als Bruder und Schwester.

Fidamantu hingegen sah einen jungen Mann in unauffälliger Kleidung, der von den anderen Forschern mit geraunten, traditionellen Begrüßungsformeln der Anerkennung willkommen geheißen wurde. Sie wußte, daß diese Sitte in der Akademie nur verdienten Forschern zuerkannt wurde, gleich welcher Abstammung, unabhängig von Geld und Rang bei Hofe.
Diese im Chor gemurmelten Formeln, ohne Anblicken und Umwenden der Anwesenden, machten auf Fremde stets einen unheimlichen Eindruck, so als erspürten die Bewohner der Akademie den Geist einer Person - tatsächlich waren ja viele Naturmagier unter den Schülern der Weisen. Aber es waren beileibe nicht alle Gelehrte in der Lage, ohne Blick einen verdienten Forscher zu erkennen.

Es gehörte zu den Besonderheiten der Akademie, daß die Forscher selbst eine Aura um sich bildeten, die wahrnehmbar wurde, abhängig von der Intensität ihrer Hinwendung zur reinen Wissenschaft. Fidamantu hatte bei Hofe in Barkhanat oft gehört, wie die Höflinge mit Schaudern davon gesprochen hatten: "Farqansul", die Gabe, das Wesen eines Fremden zu erkunden, so wie man in einem geschlossenen Buch lese, was vor einem auf dem Pult liege...
Sie selbst fühlte bei dieser Erwähnung weder Angst noch Widerwillen, sondern Sehnsucht: wie wunderbar, wenn sie selbst von den Forschern und Weisen so erkannt werden würde. In ihren Tagträumen sah sie sich selbst oft in einen Saal hineintreten und dieses Gesang-ähnliche, mit Unterschwingungen versetzte Raunen hören, wie ein gewaltiges, aber unaufdringliches Willkommen.

Niemand hieß sie bei Hofe willkommen; alle Mädchen spotteten über den "Bücherwurm", über das blasse Kind, was keine Stickerei hinbekam, beim Tanzen unbeholfen stolperte und eher harte Körperbewegungen machte, nicht die modischen, zarten Handschwenke der feinen Prinzessinnen.
Das wollte Fidamantu auch gar nicht.
Hier und jetzt, zwischen Büchern, Folianten, Schwarten aus Holz und Leder, vor Schriftrollen und Hadernfasern, tauchte sie ein in die Welt der Gelehrten, die mit ihren vor Jahrhunderten schon vergangenen Händen Gedanken festgehalten hatten, Geschichte schrieben, Taten und Untaten der Vergessenheit entrissen. Schon der Gedanke, daß so manch ein aufrichtiger Mensch vor tausend Jahren und mühsamen, wochenlangen Bewegungen Zeile um Zeile auf dem Beschreibstoff niederlegte, oft frierend vor Kälte, mit knurrendem Magen, umgeben von Krieg, Zerstörung, Barbareneinfällen und Seuchen, um für die Nachwelt ein Zeugnis abzulegen, erfüllte Fidamantu mit schaudernder Erfurcht.

Und es war ihr unerträglich, diese vergilbten und verfallenden Spuren aus der Vergangenheit ungesehen zu belassen.
Das wäre gleichsam, als würde sie die Mühe jenes unbekannten Schreibers nachträglich zum Gespött machen, und das mußte um jeden Preis verhindert werden.

In dieser geradezu andächtigen Stimmung erblickte also Aramwar jene Prinzessin Fidamantu, und nie war ihm eine Frau begehrenswerter erschienen. Sie war sein Spiegelbild, so, wie er - Aramwar - sich sein weibliches Ideal immer vorgestellt hatte.

Doch während Aramwar nichts von Fidamantu wußte, ja er die junge Frau, welche vor ihm stand, gar nicht mit der beiläufig gehörten Prinzessin Fidamantu in Verbindung brachte, tat dies Fidamantu sehr wohl mit ihm: sie kannte ihn von einem flüchtigen Hofbesuch, wußte genau um seine Vorlieben und wissenschaftliche Ausrichtung, und hatte ihn stets bewundert, beneidet um seinen Rang bei den Gelehrten, um seinen eleganten Schreibstil. Und heimlich gewünscht, seine Frau zu sein, im Wissen, daß sie beide das ideale Paar wären, und zugleich im Wissen, daß ihre Halbschwester Nurmantu eigene Pläne zu einer Heirat mit Aramwar hegte.

Sie würde es nicht dulden, klopfte es in Fidamantus Kopf, eher wird sie mich so bloßstellen, daß ein auf seinen Ruf bedachter Mann wie Aramwar mich unmöglich heiraten kann. Oh ihr Himmelskräfte, bringt meine geliebte Halbschwester doch von diesem Plan ab, bitte, bitte...

"Ähem, edle Dame, kann ich Euch bei den Schriften dieses Saales einen Hinweis geben?"
Aramwar hatte sich ein Herz gefaßt und Fidamantu angesprochen; sie errötete. Er auch, als er ihre Wangenfarbe entflammen sah.

"Nun...diese Chronik hier...hat einige Stellen, deren Aussage mir seltsam scheint." Sie gewann mit jedem Wort ein Stück ihrer Fassung zurück, so als ziehe sich ein ins Wasser Gestürzter langsam, durch Festhalten an Uferpflanzen, aus dem nassen Abgrund. Fidamantu wußte hervorragend mit Worten umzugehen und zu überzeugen, und sie war sich dies bezüglich immer sicher in ihrem Auftreten.
Aramwar stutzte beim Anblick der Blätter. "Von wo habt Ihr diese Foliantenreste genommen?"

"Aus diesem Regal, sie lagen unter zwei schweren Holz-gebundenen Bänden verborgen. War das unrecht, Herr..."

"Aramwar, aus dem Hause der Handarka, aus dem Großhaus der Munayra. Bitte verzeiht meine Unhöflichkeit, mich Euch nicht sofort vorgestellt zu haben."

"Nicht doch, ich bin hier zu Gast und muß mich zuerst bekannt machen. Fidamantu aus dem Haus der Rayasal, aus dem Großhaus der Sangarta."

"Dann, edle Fürstin", beugte sich Aramwar formvollendet, "sollt Ihr meiner Hilfe versichert sein."

Erstaunt stellte Fidamantu fest, daß ihre Adelsstellung für Aramwar keine Rolle zu spielen schien, und das nicht nur, weil er selbst aus einem alten Königshaus stammte.
In einem Augenblick völliger geistiger Klarheit erkannte sie, daß er sie in ihrem Wesen wahrgenommen und angenommen hatte, und eine tiefe Zuneigung - jenseits aller Körperlichkeit - erfüllte sie mit einem hellen Licht, das ihr Innerstes zu versengen drohte.

So verging der Vormittag und die Sonne neigte sich bereits weit gen Horizont, als Cadugar auf der Suche nach Aramwar die beiden antraf, versunken in gemeinsamer Betrachtung und Ausdeutung seltener Wortformen, ausgestorbener Redewendungen, Erklärungen zu alten Kleidern und Gegenständen, und den so anderen Lebensumständen der Menschen vor 800 Jahren.
Die beiden jungen Leute waren vollkommen in ihre Betrachtungen versunken, die Welt rings um sie war für sie verschwunden.

Bei Cadugars Eintritt wurde der geraunte Gelehrtengruß laut, und bei ihm wandten sich die älteren Forscher respektvoll um, so wie auch er etliche von ihnen begrüßte.
Aramwar schreckte hoch und trat auf den Weisen zu; Fidamantu hingegen spürte schmerzlich, wie Aramwars Aufmerksamkeit - wie durch einen unerhört starken Magneten - von ihr abgelenkt wurde.

"Schnell, wir müssen reden, bevor ein Bote Nurmantus dich zum Besuch der Großfürstin auffordern wird!"

"Was will Nurmantu überhaupt von mir", murmelte Aramwar, von Cadugar fest am Arm fortgeführt.

"Eine Ehe, eine Verbindung beider Königssippen. Sei dir bewußt, du könntest niemals Herrscher werden, nur Prinzgemahl. Auch wage ich es zu bezweifeln, daß eine Frau wie Nurmantu dich hier in der Akademie beließe, ja sie hat in einem geheimen Brief an mich keinen Zweifel gelassen, daß sie dich zu ihrer Herrscherlegitimation genauso benötigt wie mich als Gutachter des Weisenrates."

"Also ist die Sache für mich erledigt, an solch einem Leben liegt mir nichts, als Hanswurst zum Ausweisschild einer ehrgeizigen Prinzessin zu dienen!" Aramwar stieg die Zornesröte ins Gesicht. "Wenn ich die Absicht hegte, Macht zu gewinnen, würde ich andere Wege beschreiten..."

"In der Tat", bemerkte der Weise mit einem flüchtigen Seitenblick auf Fidamantu, "das...ist naheliegend."

"Versteht mich recht, edler Weiser, ich spreche zu Euch als Vertrautem und dem, der mir näher steht als mein leiblicher Vater..." Aramwar schluckte und atmete tief durch.
"Wenn ich überhaupt eine solche Entscheidung träfe, würde ich mich für Fidamantu entscheiden."

"Und DAS genau ist die Gefahr, die ich sehe, für dich und Fidamantu. Auch dazu hat Nurmantu etwas geschrieben. Hier!"

Der Weise reichte dem Archivar - nachdem sie in einer Nische verdeckt standen - die kleine Pergamentrolle. Er las:

"Edler Weiser, nachdem das Schicksal nun einmal bestimmt hat, daß mir der Thron zuerkannt werden soll, schlage ich Euch zwei Dinge vor, zu denen ich Euch natürlich nicht zwingen will, die aber auch in Eurem natürlichen Interesse liegen: erstens ein Bündnis zwischen dem Kernreich Barkhanat und Nuraniyya als Eurem eigenen Reich, dabei sei Barkhanat als Krondomäne und groherrscherliches Lehen auf Euch und Eure Nachkommen bis zum dritten Glied fest überragen, wobei Ihr und die Herrscher nach Euch sämtlichen Nießbrauch unabhängig vom Barkhanater Großherrschertum nutzen könnt. Als Gegenleistung dafür erwarte ich Euer geschätztes Gutachten, daß ich zur Ausübung der Herrschaft geeignet bin.

Zweitens betrifft es Euren Archivar, den edlen Aramwar, aus dem Hause der Handarka, aus dem Großhaus der Munayra.
Da meine Herrschaft die dritte weibliche Führung nach der der Herrscherinnen der Quryana-Zeit sein soll, in denen bekanntlich mehrere Frauen die Herrschaft über das Reich ausübten, und da die letzte jener Herrscherinnen vor 146 Jahren verstarb, ist das Volk dem Gedanken einer weiblichen Herrschaft entfremdet und Rebellion könnte die Folge sein. Daher trage ich mich mit dem Gedanken, durch eine Heirat mit dem edlen Aramwar die beiden ältesten Königshäuser der Sangarta und Munayra zu verbinden und so eine neue Dynastie zu gründen, der die Zustimmung aller Barkhanater Völker sicher sein wird.

Bitte seid versichert, daß es mir auch persönlich um diese Heirat geht, denn seit langer Zeit hörte ich von den hervorragenden Eigenschaften des Hauptarchivars Aramwar, und so habe ich keineswegs die Absicht, ihn in seinem wissenschaftlichen Weg einzuschränken, im Gegenteil: jedes Haus, jede Quelle und jedes Schatzhaus soll für die hehren Zwecke seines Forschens bereitstehen, im ganzen Reich Barkhanat. Daß neben Ruhm in der Gelehrtenschaft auch Macht und Einfluß anderer Art auf ihn wartet, sollte ihm allerdings von Euch, edler Weiser, auch klargemacht werden, denn als Gemahl der Großherrscherin Nurmantu hätte er natürlich bei Hofe zu verweilen, insgesamt zumindest die Hälfte des Mondjahres, so wie es die Reichsstatuten vorschreiben. Doch in einer solchen Position könnte er so viel Gutes befehlen, wie Errichtung weiterer Akademien, Schulen, das Reich könnte im Inneren aufblühen - wenn er in die Heirat mit mir einwilligt.

Als letzte Bedingung stelle ich, daß er - solange er mit mir verheiratet ist - keine gesetzliche Nebenfrau nimmt. Ich erwarte Eure Antwort - und die seine - noch vor meiner Rückreise nach Barkhanat."

Den Schlußgruß sparte sich Aramwar und blickte den Weisen ernst an.

"Edler Cadugar, dies Angebot ist hervorragend, doch...werde ich ablehnen müssen."

Ohne äußerliche Regung zu zeigen, meinte Cadugar: "Warte erst dein Treffen mit Nurmantu ab; es wird die Leibzofe zugegen sein, der Hofstaat ist informiert, und du hast keinen Fallstrick zu befürchten. Sprich ganz offen zu ihr, du könntest ohnehin nicht viel vor ihr verbergen."

"Ein weiterer dunkler Punkt: ist sie wirklich eine Schwarzmagierin?"

"Das glaube ich nicht, wenngleich sie offenbar auch unangenehme Methoden der Naturmagie verwendet. Du müßtest also - im Falle einer Heirat mit Nurmantu - wesentlich mehr über die Sicherheit vor magischer Einflußnahme wissen und anwenden können, sonst würdest du unweigerlich eine Marionette in ihren Händen werden."

"Und zu so einem gefahrvollen Schritt ratet ihr mir", schauderte Aramwar, der insgeheim an die nicht fern sitzende Fidamantu dachte.

"Weder rate ich dir dazu, noch davon ab. Du mußt selbst abwägen, ob du dein bisheriges Wirken fortsetzen willst oder nach anderen Dingen im Leben strebst. Doch solltest du wissen: dieser Weg, den dir Nurmantu da aufzeigt, kennt kein Zurück. Du würdest künftig immer in den Hofintrigen eine Rolle spielen, eine Schachfigur sein. Nur bliebe die Frage, ob Bauer, Läufer, Elefant oder Statthalter."

"König aber könnte diese Figur namens Aramwar niemals werden?"

"Nein. Das wird niemals sein. Doch deine Nachkommen sehr wohl - soweit es diesen Plan Nurmantus betrifft..."

Aramwar mißfiel es, im Dunkeln herumzustochern, und brachte entschlossen vor: "Was würdet IHR an meiner Stelle tun?"

"Nun, so wie der Plan sich anhört, ist er verheißungsvoll; allein, er wird sich SO wie hier geschildert nicht abspielen können. Meiner Meinung nach solltest du sie hinhalten - bedinge dir Bedenkzeit aus."

Sie trennten sich, und während sich Cadugar in seine Amtsräume zurückzog, wo bereits Würdenträger auf ihn warteten, begab sich Aramwar nachdenklich auf den Weg zu dem Gebäudetrakt der Forscher und Dozenten.

Dort wartete bereits ein Bote der Großfürstin Nurmantu, um ihn zu einer Audienz zu bitten.
Der Höfling ließ trotz seiner blumenreichen Einlassung keinen Zweifel an der Dringlichkeit der Einladung, sodaß dem jungen Archivar das Ganze eher den Eindruck einer Vorladung vor Gericht machte. Daher ließ Aramwar den Boten wissen, er habe gerade noch einige Forschungsergebnisse in die Rollen des Hauptkatasters der Akademie einzutragen, dann könne er sich freimachen. Der Bote entschwand, und Aramwar verschloß hinter sich die schwere eisenbeschlagene Holztür und verriegelte sie.

Nach kurzem Überlegen erhob sich Aramwar von dem elegant geschnitzten Holztisch, der sich inmitten seines Zimmers groß und etwas zu füllig ausnahm, und öffnete einige Fächer seiner Truhe.
Sie war ein altes Erbstück und verfügte über etliche raffiniert versteckte Geheimfächer, die teil mit Schlüsseln, teils durch richtige Einstellung eines Zahlenrades, teils nur mit beidem, öffnen ließen.

Aus einem der Fächer entnahm er ein kleines Amulett aus Silber, in das ein winziger hellblauer Stein eingefügt war. Ein quadratisches Zeichen war rings um die Steinfassung eingraviert, das als Tarbanul, "Vierfaches Symbol", bekannt war. Sein Vater hatte ihm den dazugehörigen magischen Spruch erst bei seiner Volljährigkeit verraten, denn ohne diesen war es einfach nur ein schönes Schmuckstück.

"Wisse, mein Junge", hatte der ältere Herr in den Halen des Familienwohnsitzes zu dem Jüngling gesprochen, "daß du mit diesem Tarbanul alle bösartigen Einstrahlungen abwehren kannst, genauso wie den Versuch von Geister- und Menschenwelt, Macht über dich zu gewinnen. Doch hüte dich, es den Neugierigen unter den Weisen und Magiern zu zeigen."

"Warum, Vater?"

"Weil es unmittelbar Wirkung zeigt und somit stärker ist als die heute allgemein bekannten Methoden der Naturmagie. Dieses Tarbanul stammt noch aus der Tradition der ersten Könige der Lumaschtar, ist somit also rund 300 Sonnenjahre vor der Abanor-Ära gefertigt worden.
Es gehört zu den kostbarsten Erbstücken des Großhauses der Munayra, denn Urasmaqar, der letzte der Großherrscher der Munayra, aus dem Haus der Darqatuna, vergrub es, als ihm der Untergang der Dynastie deutlich wurde, auf daß kein Unwürdiger es mit ungerechter Herrschaft besudele. Zugleich hinterließ er aber auch ein Testament, in dem in Rätselform der Aufenthaltsort des Tarbanul-Amuletts angedeutet ward."

"Doch wie kamet Ihr, Vater, in den Besitz dieses Amuletts, wo es doch den Großkönigen zukommt?"

"Dummkopf! Es ist nicht an das Amt des Großkönigs geknüpft, sondern an das Haus Munayra, weil der große Magier Farumtar - ein direkter Vorfahr meinerseits übrigens - es so in die Zeichen des Quadrats einfügte. Für andere wird es keine Wirkung haben. Doch wird dir das kein heutiger Magier glauben, und wenn sie die Wirkung spüren, werden sie dich zwingen, das vermeintliche Geheimnis zu lüften."

"Daher soll ich es also verbergen?"

"Ja, und es - wenn möglich - nicht nutzen, wenn ein sehr versierter Naturmagier davon ahnt."

"Es glaubt doch jeder, daß das Tarbanul verloren ist; weshalb dann diese Vorsicht, Vater?"

"Weil", rückte damals der alte Mann an Aramwars Gesicht, langsam flüsternd, "die Großkönige der Sangarta es uns niemals verziehen haben und auch niemals verzeihen werden, daß wir die größten Gelehrten der Geschichte Barkhanats hervorbrachten und noch immer hervorbringen. Wer von ihnen hat es je zu einem der Weisen gebracht? Oder ein bedeutsames Buch veröffentlicht? Keine Frage, sie sind exzellente Beobachter und begnadete praktische Herrscher, jedoch keine Intelligenzbrocken! Wer es unter ihnen leidlich zu etwas bringt, hat das von einem anderen Erbteil..."

Darauf hatte ihm sein Vater den Spruch eingegeben, und sofort überfuhren heißkalte Schauer Aramwar; Schweiß perlte von seiner Stirn und lief brennend in die Augenwinkel.

"Ja, mein Kind, du bist der wahre Erbe; glaube mir, so erging es auch mir, und vor mir dem letzten Großherrscher Urasmaqar, und dessem Vater und so fort bis zu dem ersten der Kette, Farumtar. Dieses Zeichen der Annahme wurde nur mündlich überliefert, bis Urasmaqar sich zu seinem Testament entschloß und auch dieses Erkennungszeichen verschlüsselt in den Text einbrachte."

Zufrieden betrachtete der alte Weise seinen Sohn.

"Jetzt ist es Dein. Das Tarbanul hat dich angenommen, und wird zu deinen Lebzeiten keinen anderen Herrn dulden."

"Doch wie kann das sein? Du, Vater, warst doch bis gerade zu diesem Moment des Tarbanuls Gebieter:"

"Aramwar", erhob sich sein Vater zum Zeichen, daß sie zu gehen hatten, "ein jeder Besitzer kann es EINMAL weitergeben, so er die aufrichtige Absicht dazu faßt, will sagen: es ALS VERMÄCHTNIS TUT. Dann sind die Himmelskräfte gnädig und legen noch mehr Segenskraft hinein ins Tarbanul. Doch wehe, du sagtest das Geheimnis einem Unberufenen oder Unwürdigen: Unmittelbar wäre es dein Tod."

Aramwar erschauderte in der Gegenwart, als er an diese Worte der Vergangenheit dachte.

Nurmantu wird erkennen, daß ich ein Amulett trage. Doch muß ich ja ihr nicht zu Willen sein, wenn sie verlangt, es zu sehen.

Entschlossen verbarg er das erstaunlich flache Amulett in seinem gefältelten Untermantel und schloß die daran befestigte, winzige Nadelfibel, sodaß auch bei heftiger Bewegung das Tarbanul bei ihm bleiben würde. Sorgfältig verschnürte er anschließend den Obermantel, ergriff seinen Stab, das Zeichen seiner Würde als erstem Vertreter seines Clans und straffte die Schultern, als er in den alten, großen Silberspiegel an der Wand blickte.
Dann öffnete er die Tür und trat hinaus auf den Gang.

Es erstaunte ihn nicht, wieder einige Diener Nurmantus vorzufinden, die ihn ehrerbietig grüßten und ihm dem Zeremoniell gemäß als Garde bis zum Raum der Großfürstin begleiteten.
Cadugar, Herrscher von Nuraniyya
Weiser der Akademie von Barkhanat
Kanzler des Norderbundes
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