Ein Kind von Traurigkeit

- Für meine Nichte Isabella. Ich hoffe du wirst die Dinge bald aus anderen Augen sehen -

"Du bist dran!" Charlotta schlug ihrer Freundin an die Schulter und rannte über die Zugbrücke. Fast kollidierte sie mit einem der Wächter, doch der beließ es bei einem ermahnenden Blick. Sie rannte die breite, schlecht gepflasterte Straße hinab und wich dabei immer wieder schwer beladenen Arbeitern aus - Pack nannte ihre Mutter sie gelegentlich. Isabella war etwas schneller, deshalb schlug Charlotta immer wieder Haken und rannte schließlich in ein Maisfeld. Der heiße, stickige Tag verlangte langsam Tribut von ihr - das Atmen schmerzte bereits und sie bekam Seitenstiche. Ihr seidenes Kleidchen war an manchen Stellen vom Mais aufgerissen, wenn Mutter das zu sehen bekommt, wird es wohl Ärger geben, dachte sie.

Sie hatte das Feld durchquert und stürmte nun über die große Wiese, dann den kleinen Hügel hinauf. In einiger Entfernung sah sie die hohen Holzpfosten, zu denen zu gehen, ihr die Mutter verboten hatte.

Dieses Verbot ignorierend, stürmte sie darauf zu. Sie bemerkte voll Freude das um die Holzpfosten verkohltes Holz und Stroh aufgestapelt war. Hier wurde wohl zuweilen Feuer entfacht. Die Luft roch süßlich. Auf unangenehme Art, wie Charlotta fand.

In einem der verkohlten Stapel sah sie etwas funkeln, kurzentschlossen rannte sie zu diesem Stapel, kniete sich hin und versuchte an das funkelnde Etwas heranzukommen. In diesem Moment spürte sie einen Schlag auf dem Rücken und hörte wie Isabella triumphierend aufschrie: „Hab dich!"

Isabella mochte Charlotta nicht besonders, aber es war ihre einzige Freundin, da es ihr verboten war mit „dem gemeinen Pöbel" zu spielen. Sie wusste nicht warum, wusste jedoch genau was ihr blühte wenn sie es tun sollte. Sie respektierte die Wünsche und Vorschriften ihrer Eltern, Charlotta tat dies nie und das brachte sie jedes Mal aufs Neue in Schwierigkeiten. Hier durften sie nicht sein, es war ihnen ausdrücklich verboten worden. Das machte sie nervös, doch momentan überwog bei ihr das Glücksgefühl darüber Charlotta eingeholt zu haben. Erschöpft ließ sie sich auf den Boden sinken, schaute zu wie die Wolken über sie hinwegzogen und atmete tief durch. Das tat sie gerne. Sie liebte es einfach die Wolken solange anzuschauen bis sie etwas darin erkennen konnte, allerdings störte sie Charlottas Gegenwart.

„Schau dir das an! Schau dir an was ich gefunden hab!" rief Charlotta entzückt und ließ eine lange goldene Halskette über ihrem Gesicht baumeln. Die Kette war gut gearbeitet und bestand aus vielen kleinen goldenen, ineinanderlaufenden Ahornblättern. Isabella erinnerte sich daran, dass ihre Mutter eine solche getragen hatte, als sie Vorgestern mit ein paar Männern fortgegangen war. Ihr Vater sagte zu ihr, dass Mutter wohl einige Zeit wegbleiben würde. Ein Gefühl der Ungewissheit kam in ihr auf, sie würde ihren Vater noch mal danach fragen. Ja, sie würde ihm die Kette zeigen und ihn noch mal danach fragen. „Gib mir die Kette" sagte sie zu Charlotta und erhob sich langsam. „Ich denke gar nicht dran! Ich hab sie gefunden und sie gehört mir! Ich habe sie gefunden und ich werde sie dir nicht geben!" schrie Charlotta.

„Gib sie mir, sofort." sagte Isabella und streckte bereits ihre Hand nach der Kette aus. „Gib sie mir, oder ich hole sie mir!"

Sie wusste nicht genau warum sie Charlotta so anfauchte, aber sie wollte die Kette haben. Sie wollte die Kette haben um ihren Vater noch mal danach zu fragen.

Charlottas Stimme zitterte vor Wut und Aufregung. „Du bekommst sie nicht, und jetzt verschwinde!"

Magnus lachte. Er hatte die Katze nun schon über die ganze Wiese gescheucht, die ihrerseits verzweifelt versuchte den Stock loszuwerden, den er ihr ins Bein gerammt hatte. Magnus sprang. Er begrub die Katze unter seinem für einen elfjährigen viel zu langen Körper. Die Katze kratze und biss, doch Magnus hatte sie fest im Griff. Er zog seinen kleinen Dolch und schnitt ihr damit die Kehle auf. Er betrachtete sein Werk mit großer Zufriedenheit und schlenderte dann über den kleinen Hügel um zu sehen ob er was bei den Scheiterhaufen finden würde. Manchmal vergaßen sie da ein paar Sachen, die er gut gebrauchen konnte.

Er seufzte kurz. Das Leben als Landwirt war so schrecklich langweilig. Seinem Vater schien es auch nicht zu gefallen, daher wunderte es ihn oft das sie nicht weggingen. ER würde weggehen sobald er zwölf war, das stand fest, und er sehnte den Tag herbei. In einiger Entfernung hörte er die Stimmen zweier Mädchen die sich anschrieen.

Vielleicht konnte er sich damit etwas die Zeit vertreiben. Fürs erste schlich er sich näher an die zwei Mädchen heran, die so in ihren Streit vertieft waren, dass sie ihn nicht sahen. Er kannte die beiden. Die Mutter der einen war gestern verbrannt worden. Vater Pius hatte gesagt sie sei eine Hexe. Wie konnte man ihre Tochter frei herumlaufen lassen, fragte er sich. Die beiden schienen sich um etwas zu streiten was eine von ihnen in der Hand hielt. Jetzt sah er es. Es funkelte. Es funkelte und es sah wertvoll aus. Die beiden Mädchen hatten mittlerweile angefangen sich auf dem Boden zu wälzen und sich an den Haaren zu ziehen. Er lächelte verächtlich. Es musste doch einen Weg geben an das funkelnde, wertvolle Ding ranzukommen ohne das sie ihn erkannten. Eine von beiden, er glaubte sie hieß Charlotta hatte die Oberhand gewonnen und trat auf das andere Mädchen ein, die versuchte ihren Kopf mit den Armen zu schützen. Blitzschnell holte Magnus die kleine Schleuder aus seiner Tasche, lud sie mit einem Stein aus der selben, zielte auf Charlottas Kopf und traf sie genau an die Stirn. Er frohlockte innerlich, das musste einfach funktionieren.

Charlotta trat wie von Sinnen auf Isabella ein. Was erlaubte die sich eigentlich“ Sie hatte ihr ein großes Büschel Haare ausgerissen, und Charlotta hatte brennende Schmerzen auf ihrem Kopf. Sie hielt erschöpft inne. Sie hörte laut ihr Herz pochen, von außen drang nur ganz leise Isabellas schluchzen an sie heran, welches auf einmal von einem lauten Pfeifton unterbrochen wurde. Sie spürte einen unglaublichen Schmerz an der Stirn und verlor das Gleichgewicht. Der Boden schwankte unter ihren Füßen hin und her. Charlotta taumelte noch zwei Schritte nach hinten, bevor sie rittlings umkippte und auf einen der Holzstapel fiel.

Isabella nahm die Hände vom Gesicht. Die Tritte hatten aufgehört. Sie sah Charlotta über ihr stehen, die Hände an die Hüften gestemmt. Dann traf irgendetwas Charlottas Kopf, und Isabella sah wie ihre Freundin nach hinten taumelte und auf einen der Holzstapel fiel. Sie sah wie eine spitze Holzstange durch ihre Brust schoss und sie aufspießte. Charlottas Kleidchen färbte sich rings um die Stelle an der das Holz sie durchbohrte langsam rot.

Verzweiflung wischte das Grinsen aus Magnus Gesicht. Er hörte wie Charlotta ein paar mal röchelte, sah wie sie Blut spuckte und dann reglos liegen blieb. So schnell er konnte rannte er zurück zur Festung. Nach etwa zweihundert Metern lächelte er wieder, er wusste was zu tun war.

Isabella stand auf und ging hinüber zu ihrer Freundin. Sie schloss ihr die Augen und öffnete dann ihre linke Hand, die immer noch die Kette umkrallte. Isabella nahm sie in die Hand, drehte und wendete sie ein paar mal und setzte sich auf den Boden. Sie konnte nicht mehr stehen. Sie versuchte etwas zu sagen, aber ihr Mund öffnete und schloss sich ohne dass ein Laut herausgekommen wäre. Sie blickte in die Wolken. Die Kette in ihren Händen würde immer schwerer. Sie betrachtete sie ängstlich und mit einemmal stand sie in einem Raum, den sie als ihr Kinderzimmer wieder erkannte. Sie sah sich selbst im Bett liegen und sie gab sich einen Gutenacht-Kuss. Sie sah an sich herab und erkannte das blaue Abendkleid ihrer Mutter. Sie wendete sich ab und ging zur Eingangstür wo zwei bewaffnete Männer auf sie warteten. Sie hörte kein Wort was gesprochen wurde doch sie konnte alles sehen, ja, sie sah durch die Augen ihrer Mutter. Sie sah die kalte, furchtbare Zelle, sie sah den Richter der sehr wütend zu sein schien und immer wieder auf sie deutete und sie sah die vielen grässlichen Apperaturen, deren genauen Sinn sie zwar nicht kannte, ihn jedoch erahnen konnte. Sie sah Vater Pius, über sie gebeugt, der auf sie einredete, sie sah ihn erneut in ihrer Zelle, wie er ihr die Kleider vom Leib riss und sich auf sie warf. Und sie sah den Platz auf dem sie sich mit Charlotta um die Kette gebalgt hatte. Sie sah viele bekannte Gesichter und wie diese mit faulem Obst und mit Steinen nach ihr warfen. Sie sah vor sich den langen Holzpfosten aufragen, doch das Holz und das Stroh was rings um ihn gestapelt war, war nicht verkohlt. Zwei Männer banden sie am Holzpfahl fest. Vater Pius las aus einem dicken Buch vor und sah sie von Zeit zu Zeit hasserfüllt an. Sie sah wie er die Hand hob und die zwei Männer die sie festgebunden hatten Fackeln vor ihre Füße warfen. Das Stroh ging sofort in Flammen auf und sie konnte zusehen wie das Feuer auf sie zu raste. Und dann sah sie es nicht nur, dann fühlte sie es auch. Sie fühlte einen entsetzlichen Schmerz der von den Füßen immer höher kroch. Ihr ganzer Körper tat so furchtbar weh. Ein süßlicher Geruch lag in der Luft. Zuerst roch sie nichts mehr, dann fühlte sie den Schmerz nicht mehr und dann wurde alles schwarz vor ihren Augen.

Magnus rannte den Hügel hinunter und auf die Scheiterhaufen zu, gefolgt von Vater Pius und zwei Bewaffneten. Er wusste, jetzt musste es schnell gehen. Er rannte auf Isabella zu, packte sie und drehte ihr die Arme auf den Rücken. Dabei ließ er ganz unauffällig die Kette, die Isabella in der Hand hatte in seine Tasche gleiten. „Ich habe sie!" schrie er zu den drei Männern „ seht doch was sie der armen Charlotta angetan hat. Eine Hexe ist sie! Genau wie ihre Mutter! Ich sah mit eigenen Augen wie sie Charlotta in der Luft schweben ließ, um sie dann über diesem Holzspiess fallen zu lassen!"

Isabella sah die drei Männer, Vater Pius, der auf sie einredete und spürte, wie aus weiter Ferne, den Schmerz, als jemand ihr die Arme auf den Rücken drehte, doch nicht ein Wort drang zu ihr durch. Erneut öffnete und schloss sich ihr Mund, und erneut brachte sie keinen Ton heraus. Ihre Augen schlossen sich und sie wurde ohnmächtig. Als sie die Augen wieder öffnete sah sie die kalte, furchtbare Zelle, sie sah den Richter der sehr wütend zu sein schien und immer wieder auf sie deutete und sie sah die vielen grässlichen Apperaturen, deren genauen Sinn sie jetzt kennen lernte. Sie sah Vater Pius, über sie gebeugt, der auf sie einredete. Als sie die Augen das letzte Mal öffnete sah sie den Platz an dem ihre Mutter verbrannt wurde. Sie sah den Scheiterhaufen vor sich aufragen, sie spürte den Druck an ihren Handgelenken, als sie an dem langen Holzpfahl festgebunden wurde und sie sah wie zwei Fackeln unendlich langsam zu ihren Füßen landeten. Sie sah viele bekannte Gesichter, auch ihren Vater den vier Männer festhielten. Auf die Schmerzen, die sie nun auszuhalten hatte war sie vorbereitet. Selbst jetzt konnte sie nicht schreien. Sie schaute ein letztes Mal in die hasserfüllten Gesichter um sie herum und sah einen Jungen der lächelte und in einen Apfel biss. Ihre Augen schlossen sich und sie tat ihren letzten Atemzug.

Magnus biss noch einmal herzhaft in seinen Apfel. Er sah wie das Mädchen ihren Kopf zu ihm drehte und ihn ansah. Er lächelte es an und sah zu wie es starb. Er steckte die Hand in seine Tasche und strich sanft über die goldene Kette. Alles in allem, so dachte er, alles in allem war das ein recht erfolgreicher Tag.

Ende