Chronik der Lady Ssringa von Shangarr
Verfasst: Fr Mär 12, 2004 6:17 am
Gawarr von Troy hält einen Federkiel in seiner Hand und starrt auf die Blätter vor sich.
Ein Chronist bin ich wahrlich nicht. Doch versuch ich die vielerlei Eindrücke und Gesichte meiner geliebten Frouwe Ssringa geordnet niederzuschreiben, auf das ein jeder sie nachlesen und verstehen kann.
Beginne ich fürs erste mit dem Orte der Herkunft. Denn es ist doch wahrlich wichtig, von wo und wie es einen nach Tamar verschlagen hat.
Die Heimat der Ssringa und wie sie entstand
Im Jahre Null erschufen die Götter ein neues Reich und umgaben es mit den Wassern der Unendlichkeit. Wer auch immer versuchen würde, über dieses Wasser zu den Göttern zu gelangen, käme letzlich wieder in das neue Reich zurück.
Die Götter hatten mit den Menschen schon gute Erfahrung gemacht und siedelten eine Gruppe an. Damit aber nicht allein eine Rasse herrsche, schufen die Götter eine neue Rasse: die T’Skrang, stärker als die Menschen und dennoch friedliebender, um für ein Gleichgewicht im neuen Reiche zu sorgen.
Im Jahre 210 begannen die Menschen den Glauben an die Götter zu verlieren. Sie führten Kriege gegen die T’Skrang, um alleinige Herrscher im neuen Reiche zu sein. Zunächst schien es, als würden die Menschen siegen. Dann aber erhoben sich alle T’Skrang und verloren ihre friedliebende Natur. Sie sangen und siegten über die Menschen – und töteten doch nur die Krieger. Das brave menschliche Volk verschonten sie gnädig.
Im Jahre 275 wurde ein Abkommen zwischen den Rassen geschlossen und ewiger Frieden geschworen. Die Götter sahen dem wohlgefällig zu.
Im Jahre 295 brachen die Menschen den friedlichen Pakt und griffen erneut die T’Skrang an.
Den Göttern wurde klar, dass es immer wieder zu solchen Scharmützeln kommen würde, wenn sie dem menschlichen Volke nicht Führung geben würden, wie sie es auch in anderen Welten getan. So beschlossen sie, ihren unsterblichen Odem in ein reines unschuldiges Kind zu hauchen, auf das es die Prophetin und Seherin der Menschen werde und die Verbindung zu den Göttern. Ein Jahrhundert sollte es leben und dienen, bis das nächste reine Kind mit göttlichem Odem beseelt die alte Seherin ablösen solle. Acht Götter – acht Seherinnen. Um zu prüfen, ob dieser göttliche Plan gelinge.
Im Jahre 300 wurde das erste Kindlein geboren, ein Mädchen von lieblicher Reinheit, dessen Eltern nie einen Frevel begannen. Es dauerte viele Jahre, ehe ein jeder merkte, was es mit dem Mädchen auf sich hatte. Doch dann wurde die Zeitrechnung neu angefangen – rückwirkend vom Tage der Geburt der ersten Seherin.
So ist das Jahre 300 auch das Jahre Null. Und mit ihm erhielt das Reich den Namen „Morgendämmerung“: dieses war der Zeitpunkt der Geburt der ersten Seherin und Prophetin Asteria.
Hm, dann sollt ich wohl jetzt die einzelnen Prophetinnen nennen, immerhin soll es ja eine Chronik werden.
Die Prophetinnen vom Reiche der Morgendämmerung
Im Jahre 0: die Geburt der ersten Prophetin Asteria
– beseelt vom Gott des Lichts
Im Jahre 100: die Geburt der zweiten Prophetin Hilaria
– beseelt vom Gott der Liebe
Im Jahre 200: die Geburt der dritten Prophetin Irina
– beseelt vom Gott des Friedens
Im Jahre 300: die Geburt der vierten Prophetin Bibiana
– beseelt vom Gott des Lebens
Im Jahre 400: die Geburt der fünften Prophetin Cäcilia
– beseelt vom Gott der Finsternis
Im Jahre 540: die Geburt der sechsten Prophetin Alena
– beseelt vom Gott der Feindschaft
Im Jahre 690: die Geburt der siebten Prophetin Alexia
– beseelt vom Gott des Krieges
Im Jahre 820: die Geburt der achten Prophetin Hunna
– beseelt vom Gott des Todes
Die vier Götter der hellen Seite hatten lange mit angesehen, wie die vier Götter der dunklen Seite ihre Macht missbraucht hatten. Wie sie aus den hundert geplanten Jahren weitaus mehr für ihre dunklen Seherinnen machten und damit das Reich der Morgendämmerung in immer tiefere Abgründe stürzten.
So kam es schließlich zu himmlischen Kriegen, die gerade der achten Prophetin sehr von Nutzen waren. Sie erreichte es, mit ihrer Kraft und Macht den Tod über jedes Mädchen zu bringen, dessen Augen nach der Geburt im blauen Lichte der göttlichen Ewigkeit strahlten. Denn wiewohl Hunna die direkte Verbindung der Menschen zum Gott des Todes war – sie selbst wollte ewig leben. Keinesfalls war sie bereit, die neue Prophetin in ihre Aufgabe einzuweisen und hernach zu sterben.
Doch im Jahre 1000 konnten sich die Götter endlich einigen und beendeten ihren langen himmlischen Krieg. Dies ist gewiß, weil Hunna in ebendiesem Jahre von den göttlichen Stimmen so umfangen ward, dass sie ein unschuldiges Mädchen übersah.
Und so geschah es, dass im Jahre 1000 die Geburt der neunten Prophetin stattfand – beseelt von der Macht aller Götter. Sie sollte ein Jahrhundert leben und die Zahl der Jahre, die von den Seherinnen der dunklen Seite zuviel verbraucht: insgesamt also 300 Jahre.
Nun, wer wird denn gleich ungeduldig? lächelnd hebt Gawarr den Kopf Jetzt kommen wir zu meiner Frouwen Ssringa.
Kampf und Vertreibung ins Asyl
Die Eltern spürten gleich, was mit ihrer Tochter war. Um sich den Schmerz zu erleichtern, gaben sie dem Kinde keinen Namen und schickten es fort. Einem achtjährigen Waisenjungen namens Gawarr aus der Stadt Troy gaben sie ihr ganzes Gelde, dass er das Mädchen zu den T’Skrang bringe. Denn allein deren Volk war stark genug, das verheißene Kind vor der Prophetin Hunna zu schützen.
Doch als die Götter eines Nachts schwiegen, bemerkte Hunna die Gefahr und wandte all ihre Kräfte an, um jeden Manne zu betören und auszusenden, damit sie das Mädchen finden und töten würden. Aus Sorge ließ sie alle Mädchen töten, gleich welche Augenfarbe. Aber tief in sich spürte sie, dass die neue Prophetin noch lebte. All ihr Rufen und Flehen zum Gotte des Todes halfen Hunna nichts. Die Götter hatten beschlossen – Hunnas Zeit sollte beendet sein.
So machte sie sich selbst auf den Weg, um allein ungefährlich zu erscheinen und so die neue Seherin zu finden und zu töten. Ihr Gespür trieb sie voran – immer näher an ihr Ziel. Dereinst hatten die Götter die Bindung der alten Prophetin an die neue erwünscht, damit sie das unschuldige Kind heranbilden könne. Doch nun erwies sich diese seelische Bindung als lebensbedrohlich für die neue Seherin.
Einundzwanzig Jahre umsorgten die T’Skrang in ihrer Hauptstadt Shangarr das menschliche Wesen. Zogen es auf in ihren eigenen Gebräuchen und schützten es wie ihre eigene Brut. Auch der Junge Gawarr fand Schutz und Hilfe bei dem Volke der T’Skrang. Er wurde ausgebildet zu einem vortrefflichen Barden, der nie von der Seite des Mädchens wich. Er lachte mit ihr und weinte mit ihr, mehr als ein Bruder, doch niemals ein Liebender.
Das Mädchen bekam den Namen Ssringa. Dies bedeutet in der Sprache der T’Skrang: Waisenkind. Doch spürte das Mädchen nie etwas davon. Sie wuchs auf mit den anderen Kindern und merkte nicht, wie anders sie und Gawarr denn waren. Sie liebte das Leben, den Wein und Gesang. Rasch erlernte sie den Siegesgesang und die kunstvolle Rede. Sie schwamm wie ein Fischlein im Wasser, doch lernte sie auch das Klettern auf Bäume, was den T’Skrang nicht möglich war.
Ein jeder liebte sie von Herzen und konnte sich ihrer strahlenden Unschuld nicht entziehen. So bedauerten Ssringas Zieheltern, als plötzlich Hunna auftauchte und mit listigem Lächeln die Herausgabe der neuen Prophetin verlangte, um diese zu schulen.
Gawarr vernahm dies ebenfalls und eilte zu seiner Lady, wie er Ssringa nannte. Er wusste, warum er vor Jahren das Neugeborene hatte fortbringen müssen. So zog er sie auch dieses Mal mit sich und tat, als sei es ein Spiel.
Während er Ssringa zu den unendlichen Wassern führte, schickte er im Stillen einen Ruf zu den Göttern, dass sie ihnen helfen mögen. Dann tauchte er mit Ssringa in das Wasser und sie schwammen um die Wette. Zunächst war dies ein großer Spaß für Ssringa, doch als sie schon recht weit hinausgeschwommen waren, wollte sie umkehren. Sah sie doch, dass Gawarr kaum noch Kraft hatte. Aber Gawarr schüttelte hartnäckig den Kopf und schwamm weiter. Ssringa wollte den Barden nicht im Stiche lassen, folgte ihm und sang heldenhafte Lieder, damit sie nicht die Kraft verloren.
So geschah es, dass die Götter die beiden Menschenkinder bis an ihr Reich herankommen ließen. Dann schickten sie eine große Welle, auf dass die Vergessenheit über sie komme und sandten sie zu ihrem eigenen Schutze in ein anderes Reich. Doch erkannten die Götter nicht die Macht des Gesanges der T’Skrang. So vergassen Gawarr und Ssringa nicht alles – nur verschüttet lag das Wissen um ihr vorheriges Leben, bereit offengelegt zu werden.
Dies trug sich zu im Jahre 1021 nach Rechnung des Reiches der Morgendämmerung.
Im Asyl
Im Winter des Jahres 327 fanden sich Ssringa und Gawarr auf der Welt Tamars wieder, einem Eiland namens Nonakesh.
Ssringa glaubte, sie habe die kleine Siedlung von einem entfernten Verwandten geerbt und schickte sich an, die Umgebung zu erforschen. Sie fühlte sich wohl, so dicht am Meer, auch wenn sie nicht genau sagen konnte weshalb es so war. Intuitiv gab sie der Siedlung den Namen Shangarr und plante, das Dorf zu einer großen Stadt werden zu lassen.
Rasch entdeckte Ssringa erste Nachbarn, doch keiner antwortete auf ihre Schreiben. Wenn nicht Gawarr von Troy mit seinen heiteren Liedern ihr immer wieder Mut gemacht hätte, so wäre sie wohl verzweifelt angesichts der rauen und ungastlichen Gebräuche.
Im Winter 332 erhielt Ssringa ein erstes Schreiben von einem Barone Merlin, der ein Seneschall des Ordens der heiligen Guridh ist. Sie war erfreut und auch verwirrt. Denn weder kannte sie die Bezeichnung Seneschall noch hatte sie jemals von Guridh gehört. Allmählich wurde ihr bewusst, dass Tamar nicht ihre wirkliche Heimat sein konnte. Sie fühlte sich dumm und ungebildet und stellte viele Fragen.
Im Sommer des Jahres 334 erreichte Ssringa ein erstes Schreiben ihrer Nachbarin Lady Rajana, ebenfalls Mitglied im Orden der Guridh. Die Nichte des Merlin und der Cailleau, Tochter des Armand Guother und der Lady Veridian. Sogleich suchte sie die nachbarschaftlichen Bande zu vertiefen und eine Freundschaft daraus erwachsen zu lassen.
Ssringa sah Herrscher kommen und Herrscher gehen in so kurzer Zeitspanne, dass sie sich langsam Sorgen machte. Das Leben auf Tamar in Nonakesh schien überaus gefährlich zu sein. Horden von Orks trieben sich vor der Stadt Shangarr herum. Doch ein Herre namens Rudi – der auf keines ihrer Schreiben reagierte – vernichtete und vertrieb die Orks. Auch Merlin schlug erbitterte Schlachten gegen die bepelzten Bewohner, um seine Nichte und damit zugleich Ssringa zu schützen.
Doch was war mit Roderick, Lokaron, Hägar und TenakaKhan? Welches Schicksal hatte sie aus dem Lande vertrieben? Die Flucht oder gar der Tod?
Als endlich eine weitere Frouwe namens Mara in Ssringas Nähe siedelte, schickte sie sofort ihren Kundschafter aus um Kontakt zu knüpfen. Doch noch ehe der Kundschafter bei der Lady Mara eintreffen konnte, hatte die noch fremde Frouwe ihr Land an die wilden Orks verloren, die in Heerscharen von den Bergen herabströmten. Der Kundschafter überbrachte grauenvolle Neuigkeiten. Das Land in Gebirgsnähe war geradezu verseucht von den schwarzen Pelzträgern – wie ein jeder sie nannte. Es gab kaum Gelegenheit sich zu verstecken. Denn kaum war ein Trupp an einem vorbeigezogen, kam auch schon der nächste angerannt. Aussichtslose Schlachten schienen es zu sein, die besonders den ihr unbekannten Herren Garibaldi und Guother zusetzten. Der Kundschafter floh rasch aus diesem gefährlichen Gebiete!
All das Töten und Sterben ließ Ssringa erkennen, dass sie zuviel Leben in sich trug, um allein zu bleiben und rasch zu sterben. Sie wollte all die Liebe in ihrem Herzen und all die Lebendigkeit mit anderen teilen. Welche Mittel dazu auch immer nötig wären.
Im Herbste 334 entschloß sich Ssringa in der Taverne eine Mail-Botschaft zu hinterlassen, dass sie auf der Suche nach einem Ehemann wäre. Dies schien ihr die vernünftigste Möglichkeit, um die machtvolle Energie in ihrem Körper zu teilen und an die Nachkommen weiterzugeben. Es tauchte eine erste Erinnerung in ihr auf von der Mutter, die mehrere Männer gehabt, um die bestmögliche Kraft zu vererben. Nicht wissend, dass es eine Erinnerung an die Ziehmutter war.
Zum gleichen Zeitpunkt traf sie erstmals persönlich auf die Herren Tankred Guother und Godefroy de Monmyraj – sie spürte sogleich, dass diese mit ihrem Schicksal verwoben seien.
Im Frühling 335 machte Godefroy de Monmyraj per Brieftaube Ssringa einen Heiratsantrag voller stürmischer Worte. Er schien von ihrer Lebendigkeit mitgerissen zu sein, dass er sie sofort zur Ehefrau nehmen wollte. Ssringa wich zurück und suchte Hilfe im Gespräch mit Lady Cailleau, der Tante ihrer Nachbarin Rajana und Ehefrau des werten Nachbarn Merlin. Obwohl Ssringas Herz heftig für Godefroy schlug, so fühlte sie sich außerstande seinen Antrag direkt anzunehmen. Zu wenig wusste sie von dem Manne – nur dass er ein Vicomte wäre und weit über 300 Jahre alt!
Gegen Ende des Sommers 335 verließ Gawarr für einige Tage Shangarr, um im Auftrage seiner Frouwe Ssringa bei einem Minnesängerwettbewerb ein Lied vorzutragen. Er war guten Mutes, auch wenn es Jahre dauern würde, bis der Wettbewerb zuende wäre.
Ssringa auf jeden Fall suchte jede Möglichkeit um Werbung für diesen Wettbewerbe zu machen und ermunterte so manchen noch zagenden Herrn. Es schien ihr ein persönliches Anliegen, dass die Dichtkunst und die Gesänge auf Tamar zu neuem Ruhm gelangen würden.
Im Herbst 335 begegnete Ssringa erstmals der Elenora Dannen, eine mächtige Frau vom Volk der Hydrill. Wiewohl Ssringa zunächst ein Streitgespräch suchte, ward schnell eine angenehme Unterhaltung daraus. Ssringa bewunderte die fremde Frau, als ob sie tief in sich fühlte, dass sie im Grunde auf Tamar ebenso fremd war wie Elenora Dannen. Sie hoffte, ihr eines Tages einen Besuch abstatten zu können, um mit dieser gerechten Frouwe handeln zu können.
Im Winter 335, als sie gerade das Handelsregister in Bauauftrag gegeben und sich als Vasallin unter Tankred Guothers Schutz gestellt hatte, begann sich Ssringas Schicksal zu erfüllen.
Es war an ihrem Geburtstage. Da ergriff Ssringa eine eigentümliche Sehnsucht. Sie fühlte sich in der winterlichen Kälte so einsam, dass sie sich entschloß, den Heiratsantrage von Godefroy anzunehmen und mit ihm der eisigen Kälte zu entfliehen. Auch wenn sie damit manch anderem Werbenden das Herzen brechen könnte.
Doch sollte dies nicht ihr Weg sein.
Eine unerfindliche Krankheit befiel die junge Lady, die sich bereits die Zuneigung vieler Menschen erworben hatte. Gawarr machte sich größte Sorgen. Die Heiler vor Ort waren ratlos. Die Gebete am kurz zuvor erbauten Schreine blieben ohne Wirkung. Konnte Gawarr doch nicht ahnen, dass Hunna acht Jahre Kraft gesammelt hatte, um die neue Prophetin über Grenzen, Raum und Zeit aufzuspüren und zu töten.
Im Sommer 336 erreichte ein Heilsgeschenk von der Kriegerin und Händlerin Elenora Dannen die Stadt Shangarr: ein geschliffener Kristallphönix aus den Tiefen der Eisminen in Narum. Ein Zeichen für Gesundheit, Widerstandskraft und Ehrgeiz.
Die Medici, gesandt vom Lehnsherrn Tankred Guother und Feanor Curufinwe, erkannten sofort, dass dieser Kristall positive Wirkung hatte und Ssringa belebte. Sie suchten nach Heilkräutern, die den Körper stärken ließen, damit er die Macht des Kristalles besser aufnehmen könne.
Auch Ssringa spürte diese Veränderung. In den Monaten zuvor war sie geplagt worden von Visionen des Lebens im Reiche der Morgendämmerung. Sie hatte mit den Augen Hunnas die Jahrhunderte gesehen – voller Leid und Schmerz. Sie hatte ihre Heimatstadt Shangarr im fernen Reiche brennen sehen und die Klagegesänge der T’Skrang hören müssen. Als Hunna ihr schließlich den Todesboten der Dunkelheit schickte, wollte Ssringa ihm nur zu bereitwillig in die erlösende Wärme der Nacht folgen, die jeglichen Schmerz auslöschte und nur ein zufriedenes selges Gefühl zurückließ.
Doch dann erstrahlte der Kristall der Widerstandskraft, noch schwach, doch bereits stark genug, um den Todesboten zu verschrecken.
Im frühen Herbste 336 wurde die Wirkung des Kristalls durch die Gebete des Hohepriesters von Godefroy de Monmyraj und vieler anderer Betender so verstärkt, dass er in den dunklen Träumen der Ssringa wie ein gleißendes Licht fuhr und den verhüllenden Todesboten als Hunna enttarnte. Die Macht der Gesundheit, die in dem Phönix-Kristall eingebettet war, zerstörte den Tod – und die Macht des Ehrgeizes zerschnitt mit grausamer Schärfe den Lebensfaden, der Hunna und Ssringa verbunden hatte.
Doch noch im Sterben ließ Hunna eine schreckliche Vision in Ssringas gepeinigte Seele fahren: sie sah ihren Lehnsherrn Tankred Guother im Kampfe mit dem Tod persönlich und konnte nichts als hilflos zusehen. Von da an wusste Ssringa, dass sie auf ewig gefangen wäre im Asyl auf Tamar, um hier zu helfen mit allen Göttern und gegen alle Götter.
Das sind die Götter des Lichts, der Liebe, des Friedens, des Lebens, der Finsternis, der Feindschaft, des Krieges und des Todes – alle vereint mit ihrem Odem in der Seherin und Prophetin aus dem Reiche der Morgendämmerung, der Ssringa von Shangarr.
Ob sich aber die Weissagung erfüllen und ihr ein Leben von 300 Jahren bescheren würde – dies kann jetzt noch niemand sagen.
Ein Chronist bin ich wahrlich nicht. Doch versuch ich die vielerlei Eindrücke und Gesichte meiner geliebten Frouwe Ssringa geordnet niederzuschreiben, auf das ein jeder sie nachlesen und verstehen kann.
Beginne ich fürs erste mit dem Orte der Herkunft. Denn es ist doch wahrlich wichtig, von wo und wie es einen nach Tamar verschlagen hat.

Die Heimat der Ssringa und wie sie entstand
Im Jahre Null erschufen die Götter ein neues Reich und umgaben es mit den Wassern der Unendlichkeit. Wer auch immer versuchen würde, über dieses Wasser zu den Göttern zu gelangen, käme letzlich wieder in das neue Reich zurück.
Die Götter hatten mit den Menschen schon gute Erfahrung gemacht und siedelten eine Gruppe an. Damit aber nicht allein eine Rasse herrsche, schufen die Götter eine neue Rasse: die T’Skrang, stärker als die Menschen und dennoch friedliebender, um für ein Gleichgewicht im neuen Reiche zu sorgen.
Im Jahre 210 begannen die Menschen den Glauben an die Götter zu verlieren. Sie führten Kriege gegen die T’Skrang, um alleinige Herrscher im neuen Reiche zu sein. Zunächst schien es, als würden die Menschen siegen. Dann aber erhoben sich alle T’Skrang und verloren ihre friedliebende Natur. Sie sangen und siegten über die Menschen – und töteten doch nur die Krieger. Das brave menschliche Volk verschonten sie gnädig.
Im Jahre 275 wurde ein Abkommen zwischen den Rassen geschlossen und ewiger Frieden geschworen. Die Götter sahen dem wohlgefällig zu.
Im Jahre 295 brachen die Menschen den friedlichen Pakt und griffen erneut die T’Skrang an.
Den Göttern wurde klar, dass es immer wieder zu solchen Scharmützeln kommen würde, wenn sie dem menschlichen Volke nicht Führung geben würden, wie sie es auch in anderen Welten getan. So beschlossen sie, ihren unsterblichen Odem in ein reines unschuldiges Kind zu hauchen, auf das es die Prophetin und Seherin der Menschen werde und die Verbindung zu den Göttern. Ein Jahrhundert sollte es leben und dienen, bis das nächste reine Kind mit göttlichem Odem beseelt die alte Seherin ablösen solle. Acht Götter – acht Seherinnen. Um zu prüfen, ob dieser göttliche Plan gelinge.
Im Jahre 300 wurde das erste Kindlein geboren, ein Mädchen von lieblicher Reinheit, dessen Eltern nie einen Frevel begannen. Es dauerte viele Jahre, ehe ein jeder merkte, was es mit dem Mädchen auf sich hatte. Doch dann wurde die Zeitrechnung neu angefangen – rückwirkend vom Tage der Geburt der ersten Seherin.
So ist das Jahre 300 auch das Jahre Null. Und mit ihm erhielt das Reich den Namen „Morgendämmerung“: dieses war der Zeitpunkt der Geburt der ersten Seherin und Prophetin Asteria.
Hm, dann sollt ich wohl jetzt die einzelnen Prophetinnen nennen, immerhin soll es ja eine Chronik werden.

Die Prophetinnen vom Reiche der Morgendämmerung
Im Jahre 0: die Geburt der ersten Prophetin Asteria
– beseelt vom Gott des Lichts
Im Jahre 100: die Geburt der zweiten Prophetin Hilaria
– beseelt vom Gott der Liebe
Im Jahre 200: die Geburt der dritten Prophetin Irina
– beseelt vom Gott des Friedens
Im Jahre 300: die Geburt der vierten Prophetin Bibiana
– beseelt vom Gott des Lebens
Im Jahre 400: die Geburt der fünften Prophetin Cäcilia
– beseelt vom Gott der Finsternis
Im Jahre 540: die Geburt der sechsten Prophetin Alena
– beseelt vom Gott der Feindschaft
Im Jahre 690: die Geburt der siebten Prophetin Alexia
– beseelt vom Gott des Krieges
Im Jahre 820: die Geburt der achten Prophetin Hunna
– beseelt vom Gott des Todes
Die vier Götter der hellen Seite hatten lange mit angesehen, wie die vier Götter der dunklen Seite ihre Macht missbraucht hatten. Wie sie aus den hundert geplanten Jahren weitaus mehr für ihre dunklen Seherinnen machten und damit das Reich der Morgendämmerung in immer tiefere Abgründe stürzten.
So kam es schließlich zu himmlischen Kriegen, die gerade der achten Prophetin sehr von Nutzen waren. Sie erreichte es, mit ihrer Kraft und Macht den Tod über jedes Mädchen zu bringen, dessen Augen nach der Geburt im blauen Lichte der göttlichen Ewigkeit strahlten. Denn wiewohl Hunna die direkte Verbindung der Menschen zum Gott des Todes war – sie selbst wollte ewig leben. Keinesfalls war sie bereit, die neue Prophetin in ihre Aufgabe einzuweisen und hernach zu sterben.
Doch im Jahre 1000 konnten sich die Götter endlich einigen und beendeten ihren langen himmlischen Krieg. Dies ist gewiß, weil Hunna in ebendiesem Jahre von den göttlichen Stimmen so umfangen ward, dass sie ein unschuldiges Mädchen übersah.
Und so geschah es, dass im Jahre 1000 die Geburt der neunten Prophetin stattfand – beseelt von der Macht aller Götter. Sie sollte ein Jahrhundert leben und die Zahl der Jahre, die von den Seherinnen der dunklen Seite zuviel verbraucht: insgesamt also 300 Jahre.
Nun, wer wird denn gleich ungeduldig? lächelnd hebt Gawarr den Kopf Jetzt kommen wir zu meiner Frouwen Ssringa.

Kampf und Vertreibung ins Asyl
Die Eltern spürten gleich, was mit ihrer Tochter war. Um sich den Schmerz zu erleichtern, gaben sie dem Kinde keinen Namen und schickten es fort. Einem achtjährigen Waisenjungen namens Gawarr aus der Stadt Troy gaben sie ihr ganzes Gelde, dass er das Mädchen zu den T’Skrang bringe. Denn allein deren Volk war stark genug, das verheißene Kind vor der Prophetin Hunna zu schützen.
Doch als die Götter eines Nachts schwiegen, bemerkte Hunna die Gefahr und wandte all ihre Kräfte an, um jeden Manne zu betören und auszusenden, damit sie das Mädchen finden und töten würden. Aus Sorge ließ sie alle Mädchen töten, gleich welche Augenfarbe. Aber tief in sich spürte sie, dass die neue Prophetin noch lebte. All ihr Rufen und Flehen zum Gotte des Todes halfen Hunna nichts. Die Götter hatten beschlossen – Hunnas Zeit sollte beendet sein.
So machte sie sich selbst auf den Weg, um allein ungefährlich zu erscheinen und so die neue Seherin zu finden und zu töten. Ihr Gespür trieb sie voran – immer näher an ihr Ziel. Dereinst hatten die Götter die Bindung der alten Prophetin an die neue erwünscht, damit sie das unschuldige Kind heranbilden könne. Doch nun erwies sich diese seelische Bindung als lebensbedrohlich für die neue Seherin.
Einundzwanzig Jahre umsorgten die T’Skrang in ihrer Hauptstadt Shangarr das menschliche Wesen. Zogen es auf in ihren eigenen Gebräuchen und schützten es wie ihre eigene Brut. Auch der Junge Gawarr fand Schutz und Hilfe bei dem Volke der T’Skrang. Er wurde ausgebildet zu einem vortrefflichen Barden, der nie von der Seite des Mädchens wich. Er lachte mit ihr und weinte mit ihr, mehr als ein Bruder, doch niemals ein Liebender.
Das Mädchen bekam den Namen Ssringa. Dies bedeutet in der Sprache der T’Skrang: Waisenkind. Doch spürte das Mädchen nie etwas davon. Sie wuchs auf mit den anderen Kindern und merkte nicht, wie anders sie und Gawarr denn waren. Sie liebte das Leben, den Wein und Gesang. Rasch erlernte sie den Siegesgesang und die kunstvolle Rede. Sie schwamm wie ein Fischlein im Wasser, doch lernte sie auch das Klettern auf Bäume, was den T’Skrang nicht möglich war.
Ein jeder liebte sie von Herzen und konnte sich ihrer strahlenden Unschuld nicht entziehen. So bedauerten Ssringas Zieheltern, als plötzlich Hunna auftauchte und mit listigem Lächeln die Herausgabe der neuen Prophetin verlangte, um diese zu schulen.
Gawarr vernahm dies ebenfalls und eilte zu seiner Lady, wie er Ssringa nannte. Er wusste, warum er vor Jahren das Neugeborene hatte fortbringen müssen. So zog er sie auch dieses Mal mit sich und tat, als sei es ein Spiel.
Während er Ssringa zu den unendlichen Wassern führte, schickte er im Stillen einen Ruf zu den Göttern, dass sie ihnen helfen mögen. Dann tauchte er mit Ssringa in das Wasser und sie schwammen um die Wette. Zunächst war dies ein großer Spaß für Ssringa, doch als sie schon recht weit hinausgeschwommen waren, wollte sie umkehren. Sah sie doch, dass Gawarr kaum noch Kraft hatte. Aber Gawarr schüttelte hartnäckig den Kopf und schwamm weiter. Ssringa wollte den Barden nicht im Stiche lassen, folgte ihm und sang heldenhafte Lieder, damit sie nicht die Kraft verloren.
So geschah es, dass die Götter die beiden Menschenkinder bis an ihr Reich herankommen ließen. Dann schickten sie eine große Welle, auf dass die Vergessenheit über sie komme und sandten sie zu ihrem eigenen Schutze in ein anderes Reich. Doch erkannten die Götter nicht die Macht des Gesanges der T’Skrang. So vergassen Gawarr und Ssringa nicht alles – nur verschüttet lag das Wissen um ihr vorheriges Leben, bereit offengelegt zu werden.
Dies trug sich zu im Jahre 1021 nach Rechnung des Reiches der Morgendämmerung.
Im Asyl
Im Winter des Jahres 327 fanden sich Ssringa und Gawarr auf der Welt Tamars wieder, einem Eiland namens Nonakesh.
Ssringa glaubte, sie habe die kleine Siedlung von einem entfernten Verwandten geerbt und schickte sich an, die Umgebung zu erforschen. Sie fühlte sich wohl, so dicht am Meer, auch wenn sie nicht genau sagen konnte weshalb es so war. Intuitiv gab sie der Siedlung den Namen Shangarr und plante, das Dorf zu einer großen Stadt werden zu lassen.
Rasch entdeckte Ssringa erste Nachbarn, doch keiner antwortete auf ihre Schreiben. Wenn nicht Gawarr von Troy mit seinen heiteren Liedern ihr immer wieder Mut gemacht hätte, so wäre sie wohl verzweifelt angesichts der rauen und ungastlichen Gebräuche.
Im Winter 332 erhielt Ssringa ein erstes Schreiben von einem Barone Merlin, der ein Seneschall des Ordens der heiligen Guridh ist. Sie war erfreut und auch verwirrt. Denn weder kannte sie die Bezeichnung Seneschall noch hatte sie jemals von Guridh gehört. Allmählich wurde ihr bewusst, dass Tamar nicht ihre wirkliche Heimat sein konnte. Sie fühlte sich dumm und ungebildet und stellte viele Fragen.
Im Sommer des Jahres 334 erreichte Ssringa ein erstes Schreiben ihrer Nachbarin Lady Rajana, ebenfalls Mitglied im Orden der Guridh. Die Nichte des Merlin und der Cailleau, Tochter des Armand Guother und der Lady Veridian. Sogleich suchte sie die nachbarschaftlichen Bande zu vertiefen und eine Freundschaft daraus erwachsen zu lassen.
Ssringa sah Herrscher kommen und Herrscher gehen in so kurzer Zeitspanne, dass sie sich langsam Sorgen machte. Das Leben auf Tamar in Nonakesh schien überaus gefährlich zu sein. Horden von Orks trieben sich vor der Stadt Shangarr herum. Doch ein Herre namens Rudi – der auf keines ihrer Schreiben reagierte – vernichtete und vertrieb die Orks. Auch Merlin schlug erbitterte Schlachten gegen die bepelzten Bewohner, um seine Nichte und damit zugleich Ssringa zu schützen.
Doch was war mit Roderick, Lokaron, Hägar und TenakaKhan? Welches Schicksal hatte sie aus dem Lande vertrieben? Die Flucht oder gar der Tod?
Als endlich eine weitere Frouwe namens Mara in Ssringas Nähe siedelte, schickte sie sofort ihren Kundschafter aus um Kontakt zu knüpfen. Doch noch ehe der Kundschafter bei der Lady Mara eintreffen konnte, hatte die noch fremde Frouwe ihr Land an die wilden Orks verloren, die in Heerscharen von den Bergen herabströmten. Der Kundschafter überbrachte grauenvolle Neuigkeiten. Das Land in Gebirgsnähe war geradezu verseucht von den schwarzen Pelzträgern – wie ein jeder sie nannte. Es gab kaum Gelegenheit sich zu verstecken. Denn kaum war ein Trupp an einem vorbeigezogen, kam auch schon der nächste angerannt. Aussichtslose Schlachten schienen es zu sein, die besonders den ihr unbekannten Herren Garibaldi und Guother zusetzten. Der Kundschafter floh rasch aus diesem gefährlichen Gebiete!
All das Töten und Sterben ließ Ssringa erkennen, dass sie zuviel Leben in sich trug, um allein zu bleiben und rasch zu sterben. Sie wollte all die Liebe in ihrem Herzen und all die Lebendigkeit mit anderen teilen. Welche Mittel dazu auch immer nötig wären.
Im Herbste 334 entschloß sich Ssringa in der Taverne eine Mail-Botschaft zu hinterlassen, dass sie auf der Suche nach einem Ehemann wäre. Dies schien ihr die vernünftigste Möglichkeit, um die machtvolle Energie in ihrem Körper zu teilen und an die Nachkommen weiterzugeben. Es tauchte eine erste Erinnerung in ihr auf von der Mutter, die mehrere Männer gehabt, um die bestmögliche Kraft zu vererben. Nicht wissend, dass es eine Erinnerung an die Ziehmutter war.
Zum gleichen Zeitpunkt traf sie erstmals persönlich auf die Herren Tankred Guother und Godefroy de Monmyraj – sie spürte sogleich, dass diese mit ihrem Schicksal verwoben seien.
Im Frühling 335 machte Godefroy de Monmyraj per Brieftaube Ssringa einen Heiratsantrag voller stürmischer Worte. Er schien von ihrer Lebendigkeit mitgerissen zu sein, dass er sie sofort zur Ehefrau nehmen wollte. Ssringa wich zurück und suchte Hilfe im Gespräch mit Lady Cailleau, der Tante ihrer Nachbarin Rajana und Ehefrau des werten Nachbarn Merlin. Obwohl Ssringas Herz heftig für Godefroy schlug, so fühlte sie sich außerstande seinen Antrag direkt anzunehmen. Zu wenig wusste sie von dem Manne – nur dass er ein Vicomte wäre und weit über 300 Jahre alt!
Gegen Ende des Sommers 335 verließ Gawarr für einige Tage Shangarr, um im Auftrage seiner Frouwe Ssringa bei einem Minnesängerwettbewerb ein Lied vorzutragen. Er war guten Mutes, auch wenn es Jahre dauern würde, bis der Wettbewerb zuende wäre.
Ssringa auf jeden Fall suchte jede Möglichkeit um Werbung für diesen Wettbewerbe zu machen und ermunterte so manchen noch zagenden Herrn. Es schien ihr ein persönliches Anliegen, dass die Dichtkunst und die Gesänge auf Tamar zu neuem Ruhm gelangen würden.
Im Herbst 335 begegnete Ssringa erstmals der Elenora Dannen, eine mächtige Frau vom Volk der Hydrill. Wiewohl Ssringa zunächst ein Streitgespräch suchte, ward schnell eine angenehme Unterhaltung daraus. Ssringa bewunderte die fremde Frau, als ob sie tief in sich fühlte, dass sie im Grunde auf Tamar ebenso fremd war wie Elenora Dannen. Sie hoffte, ihr eines Tages einen Besuch abstatten zu können, um mit dieser gerechten Frouwe handeln zu können.
Im Winter 335, als sie gerade das Handelsregister in Bauauftrag gegeben und sich als Vasallin unter Tankred Guothers Schutz gestellt hatte, begann sich Ssringas Schicksal zu erfüllen.
Es war an ihrem Geburtstage. Da ergriff Ssringa eine eigentümliche Sehnsucht. Sie fühlte sich in der winterlichen Kälte so einsam, dass sie sich entschloß, den Heiratsantrage von Godefroy anzunehmen und mit ihm der eisigen Kälte zu entfliehen. Auch wenn sie damit manch anderem Werbenden das Herzen brechen könnte.
Doch sollte dies nicht ihr Weg sein.
Eine unerfindliche Krankheit befiel die junge Lady, die sich bereits die Zuneigung vieler Menschen erworben hatte. Gawarr machte sich größte Sorgen. Die Heiler vor Ort waren ratlos. Die Gebete am kurz zuvor erbauten Schreine blieben ohne Wirkung. Konnte Gawarr doch nicht ahnen, dass Hunna acht Jahre Kraft gesammelt hatte, um die neue Prophetin über Grenzen, Raum und Zeit aufzuspüren und zu töten.
Im Sommer 336 erreichte ein Heilsgeschenk von der Kriegerin und Händlerin Elenora Dannen die Stadt Shangarr: ein geschliffener Kristallphönix aus den Tiefen der Eisminen in Narum. Ein Zeichen für Gesundheit, Widerstandskraft und Ehrgeiz.
Die Medici, gesandt vom Lehnsherrn Tankred Guother und Feanor Curufinwe, erkannten sofort, dass dieser Kristall positive Wirkung hatte und Ssringa belebte. Sie suchten nach Heilkräutern, die den Körper stärken ließen, damit er die Macht des Kristalles besser aufnehmen könne.
Auch Ssringa spürte diese Veränderung. In den Monaten zuvor war sie geplagt worden von Visionen des Lebens im Reiche der Morgendämmerung. Sie hatte mit den Augen Hunnas die Jahrhunderte gesehen – voller Leid und Schmerz. Sie hatte ihre Heimatstadt Shangarr im fernen Reiche brennen sehen und die Klagegesänge der T’Skrang hören müssen. Als Hunna ihr schließlich den Todesboten der Dunkelheit schickte, wollte Ssringa ihm nur zu bereitwillig in die erlösende Wärme der Nacht folgen, die jeglichen Schmerz auslöschte und nur ein zufriedenes selges Gefühl zurückließ.
Doch dann erstrahlte der Kristall der Widerstandskraft, noch schwach, doch bereits stark genug, um den Todesboten zu verschrecken.
Im frühen Herbste 336 wurde die Wirkung des Kristalls durch die Gebete des Hohepriesters von Godefroy de Monmyraj und vieler anderer Betender so verstärkt, dass er in den dunklen Träumen der Ssringa wie ein gleißendes Licht fuhr und den verhüllenden Todesboten als Hunna enttarnte. Die Macht der Gesundheit, die in dem Phönix-Kristall eingebettet war, zerstörte den Tod – und die Macht des Ehrgeizes zerschnitt mit grausamer Schärfe den Lebensfaden, der Hunna und Ssringa verbunden hatte.
Doch noch im Sterben ließ Hunna eine schreckliche Vision in Ssringas gepeinigte Seele fahren: sie sah ihren Lehnsherrn Tankred Guother im Kampfe mit dem Tod persönlich und konnte nichts als hilflos zusehen. Von da an wusste Ssringa, dass sie auf ewig gefangen wäre im Asyl auf Tamar, um hier zu helfen mit allen Göttern und gegen alle Götter.
Das sind die Götter des Lichts, der Liebe, des Friedens, des Lebens, der Finsternis, der Feindschaft, des Krieges und des Todes – alle vereint mit ihrem Odem in der Seherin und Prophetin aus dem Reiche der Morgendämmerung, der Ssringa von Shangarr.
Ob sich aber die Weissagung erfüllen und ihr ein Leben von 300 Jahren bescheren würde – dies kann jetzt noch niemand sagen.